FRANCO BELTRAMETTI
WIR SIND DABEI FREUNDE ZU WERDEN
Franco Beltrametti
WIR SIND DABEI FREUNDE ZU WERDEN
Der Winter von 1989 auf 1990 war trocken, mit vielen Waldbränden und
einer Dürre von Sizilien bis zu den Alpen. Seit Dezember leuchten die
goldenen Caly-canthaceae-Blüten auf, wenn die Sonne von den Klippen des
Monte Generoso aus über den Dächer aufgeht. Ich lebe hier mit Unterbrechungen
seit neunzehn Jahren. Meine Nachbarn, Laurie und Giovanni, haben diese alte
elektrische Schreibmaschine, die ich jetzt benutze. Ich mag ihre Typen, ihr
Summen und den metallischen Ton. Eine Zehntausend-Wort Autobiographie klingt
wie zehntausend Flüsse und Berge. Ich werd’s versuchen.
Ich wurde am 7. Oktober 1937 am Lago Maggiore geboren. Mein Vater arbeitete
für die Schweizer Eisenbahn. Ich glaube, ich wurde in Locarno geboren,
weil die Mutter meiner Mutter, Anita Sala, von Sestri Levante in Legurien dorthin
gezogen war, nachdem ihr Ehemann, Hervé Fragnière, 1930 gestorben
war. Zuvor arbeitete auch er für die Eisenbahn. Der Vater meines Vaters,
Giuseppe, war Bauer. 1899 ist er von Cadenazzo im Tessin nach Kalifornien ausgewandert
und betrieb einen Hof für Milchwirtschaft in Point Arena, Mendecino County,
am Pazifik. Seine Frau, Lucia, hatte vier Töchter und zwei Söhne:
Americo und meinen Vater Giovanni, der Ältere. Mein Großvater kam
1909 aus Kalifornien zurück, nur um mitzuerleben, wie seine Ersparnisse
im Bankrott einer lokalen Schweizer Bank verloren gingen. Sein zweiter Sohn,
Americo, ist ebenfalls nach Kalifornien gegangen. Er hatte einen Ruf als Raufbold.
Jeder in unserer Familie hat behauptet, dass ich genau wie er aussehen würde.
Er starb 1931, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, an Wundbrand in Santa Maria,
Kalifornien. Als Kind habe ich oft den Hof meines Großvaters in Cadenazzo
besucht. Ein Steinhaus, ein Garten, ein paar Kühe und ein Pferd, ein Obsthain
und ein Weinberg an den Hängen der Kastanienwälder des Monte Ceneri
sowie einige Felder draußen in der Ebene von Magadino. Er erzählte
mir vom Feuer in San Francisco, von Zügen in die Stadt, Aufständen
in Chinatown und anderen Dingen, die mich träumen ließen, die Welt
sei groß und zugänglich. Er trug einen schwarzen Hut und ein rotes
Halstuch, das mit einer leeren Streichholzschachtel geschlossen war. Im Herzen
war er ein Anarchist und erweckte in mir, wahrscheinlich ohne es zu wollen,
den Wunsch zu reisen, wegzugehen, weiter zu ziehen. Ich bin jetzt dreiundfünfzig
und fühle immer noch so. Meine Mutter heißt Linda. Sie besuchte
die Scuola d’Arte del Costume in Mailand nahe der Duomo. Als sie im September
1933 Verwandte in Cadenazzo besuchte, erhielt sie einen Liebesbrief. Der Bote
war mein Vater. 1936 haben sie geheiratet, zogen von einer Eisenbahnerstadt
in die nächste und trennten sich schließlich, als ich sechzehn war.
Die Sprache der Südschweiz, des Tessin, besteht aus dem Italienischen
und lokalen Dialekten. Man erkannte durch den Akzent, von wo jemand herkam.
Der geringste Unterschied war von Bedeutung. Ich habe viele Dialekte vergessen
und spreche nur noch wenige mit meinem Vater, der jetzt dreiundachtzig Jahre
alt ist. Meine Mutter sprach immer Italienisch mit mir. (Sie waren zu ungleiche
Menschen um zusammenzuleben. Ich bin ihr einziges Kind. Auch ich habe einen
Sohn, Giona. Er wurde 1966 in Kyoto, Japan, geboren. Der Name seiner Mutter
ist Judith Danciger.)
Ich sollte etwas über meine Großmutter, Anita, sagen. Sie nahm mich
immer mit Pilze suchen und auch in die Konditoreien sowie Kneipen, die bei
ihr sehr beliebt waren.
Im April 1945 war der Krieg vorüber. Die Antifaschisten machten Jagd auf
die lokalen Faschisten. Ich nahm teil am Sturm auf einen Tabakladen unterhalb
von Locarnos portici. Der Besitzer verlor ein Ohr in der Schlägerei. Die
Villen einiger faschistischer Bosse brannten. Ich hatte nichts dagegen. Offiziell
war die Schweiz neutral gewesen, doch tausende italienischer, französischer
und deutscher Juden wurden an der Grenze zurückgewiesen und den Schlächtern überlassen.
Nenn das Neutralität! Mitten in der Nacht konnte man ganze Flugzeugschwärme
hören. Von dem roten Himmel wusste man, dass Mailand bombardiert wurde.
Mein Mann war Stalin. Ich hielt mich für einen Kommunisten und einen Anarchisten.
Das Leben in Chiasso, einer kleinen Eisenbahnstation an der Grenze, in die
wir 1946 gezogen waren, war langweilig. Gott sei Dank gab es Banden, Straßenkämpfe
und die „2 Filme 2 Kinos“ jenseits der Grenze in Ponte Chiasso.
Für Western und andere Filme mit dem neapolanischen Schauspieler Totò,
lag Como nah genug. Als meine Eltern sich trennten, war ich der erste der ging.
Ich mietete mir ein Zimmer in Lugano, wo ich als Schüler im Liceo gestrandet
war. Ich war kein guter Schüler. Mne’monische Systeme waren ein
Horror. Ich liebte Sprachen, Kunstgeschichte und alle Neuigkeiten über
Kunst und Literatur, an die ich kommen konnte. Der Lehrer für Französisch,
Pericle Patocchi, kannte sich ausgezeichnet über die provinzialische Dichtung
und über Ronsard, Louise Labè, Rabelais, Verlaine, Baudelaire und
Apollinaire aus. Es dauerte zwei Jahre länger als vorhergesehen, um diese
verfluchte Schule abzuschließen. Das Leben war weitaus anziehender, und
Bücher, Sartre, Camus, Villion, Ungaretti, Dino Campana, Vittorini, Pavese,
Melville und Hemingway waren meine Helden, zusammen mit Lucio Fontana, Yves
Klein und Pollack, von deren Ausstellungen in Mailand ich keine versäumt
habe. Meine Mutter war mit ihrem neuen Mann, Edo, dorthin gezogen. Die Stadt
war gut für Bars, Galerien, Buchläden und Aktionen. Lugano war dagegen
eine Art Exil während der Woche. Als ich 1958 nach Zürich zog, um
Architektur zu studieren, war ich ziemlich auf mich selbst gestellt. Mein Vater
und meine Mutter halfen mir immer aus, doch sie waren nicht wohlhabend. Ich
denke, auf ihre ruhige Weise waren und sind sie immer noch sehr außergewöhnlich.
Vor einigen Stunden habe ich meiner Mutter von dieser Autobiographie erzählt. „Oh,
du vergisst so vieles, ich habe ein weitaus besseres Gedächtnis als du,“ lachte
sie am Telefon. Für gewöhnlich entschuldige ich mein schlechtes Gedächtnis
damit, dass ich so viele Leute getroffen und mich auf so viele Orte, Situationen,
Jobs und Geschehnisse eingelassen habe, dass die Gegenwärtigkeit von all
dem die Kontrolle übernommen hat.
Im Frühling 1939 gingen meine Eltern auf eine Reise nach Interlaken und
Lausanne. Ich blieb zurück bei meiner Großmutter Anita und erinnere
mich an riesige, blaue Hortensienblüten (1967 habe ich sie in Kyoto auf
LSD wiedergesehen) und Wege umgeben von Erdbeeren. Zum ersten Mal waren meine
Eltern nicht da. Dies war in Cadenazzo, in dem großen Landhaus der wohlhabenden
Verwandten meiner Mutter. Auf dem Hof meines Großvaters, ein paar hundert
Meter den Berg hinauf, war die Szenerie vollkommen anders: eine kleine Feuerstelle,
auf der immer eine Kaffeekanne stand. Aber auch dort gab es Hortensien.
Ich erinnere mich an die Pâté meiner Großmutter Anita und
Sardellen. Sie war ein Gourmet, verbrachte sogar Tage damit, das Hochzeitbanquet
meiner Tante Carla vorzubereiten. Es gab ein Mädchen aus den Bergen, das
im Haushalt half. Ich vergesse ihren Namen. Manchmal spielte sie mit meinem
kleinen Ding, und ich berührte sie. Ich muß vier oder fünf
gewesen sein, da mein Onkel Fredi des öfteren mit der Armee unterwegs
war. In jenen Tagen ist Fredi viel herumgekommen. Wir besuchten oft eine junge
Frau auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Sie besaß mehrere
Fuchshäute. Dann versank der Ozeandampfer aus Blech, den wir von zia Carla
ausgeliehen hatten. Das verursachte fast eine Trennung. Mein Onkel benütze
mich als seinen Jagdhund, ich holte die kleinen, noch warmen Vögel aus
dem Dickicht hervor. Ich erinnere mich, wie er einen großen, grünen
Specht geschossen hat. Ich erinnere mich, dass mir das nicht gefallen hat,
aber ich mochte meinen Onkel. Meine Kariere als Jagdhund kam zu einem abrupten
Ende, als ich mir eine Lungenentzündung einfing, weil ich in nassen Kleidern
draußen geschlafen hatte. Fredi fing auch Forellen mit der Hand in der
Isorno Schlucht in Loco, dem Onsernone Tal. Sein Vater, Venanzio, ein pensonierter
Lokomotivführer, hatte den monumentalsten weißen Schnurbart, den
es je gegeben hat und sammelte alte Waffen. Sie machten keinen besonderen Eindruck
auf mich, obwohl ich mit Fredi gerne Duell mit richtigen Schwertern gespielt
habe. Wir waren sorglos, doch alles ist gut gegangen.
Rückblick: Winter 1940, ich gehe über das Eis eines zugefrorenen
Brunnens. Das Eis bricht. Ein Bauer rettet mich und bringt mich in seine Küche,
die von einem prasselnden Feuer beleuchtet wird. Sein Frau zieht meine eisigen,
nassen Kleider aus, legt mich auf einen großen Holztisch und massiert
mich mit Grappa, bis ich ganz rot bin. Ich erkälte mich noch nicht einmal.
Im Alter von fünf Jahren; in der Nähe des Güterbahnhofs von
Castione, Bellinzona, hinter dem Zaun des Kindergartens, kastriert ein Mann
Gockel. Feder fliegen überall herum. Ein anderes Mal rettet mich ein Steinmetz
vorm Ertrinken in einem schnell fließenden Bach. (Ich habe eine großartige
Sammlung von Haustieren aus Stroh: Miki, der Hund, eine Giraffe, ein Pferd,
Mumo, den riesigen Teddybär, einen Tiger und einen Elefanten. Ich bin
auch ganz vernarrt in eine Puppe und stricke einige Kleider für sie: ich
erinnere mich an einen blauen Rock mit rosa Blumen.) Die Schweizer Armee marschiert
den Feldweg rauf und runter, der in die Stadt führt. Zur Schule, der Geruch
von Tinte und die Schönheit metallener Federn. Die unbequemen Holzbänke.
Ich hasse es dort zu sitzen, auf ewig. Soldaten die sich an eisigen Morgen
in hölzernen Waschbecken rasieren. Ein guter Tag, keine Schule: das Gebäude
ist überfüllt mit britischen Sikh Soldaten und anderen Kriegsflüchtlingen.
Es ist 1943 oder 1944. Wir verbringen einen Sommer, meine Mutter und ich, bei
Verwandten in Indemini, einem einsamen Bergdorf. Ich helfe dabei, Holzkohle
herzustellen. Ein langer, weißer Wurm erschrickt und verwirrt mich: er
verschwindet in einem unsichtbaren Loch. Geheimnis. Sieben Jahre alt: mein
Vater ist erneut gezwungen umzuziehen, während der zweiten Klasse wechsel
ich die Schule dreimal. In Locarno sperrt mich der Lehrer in einen Schrank.
Ein alltägliches Vorkommnis. Ich esse den gesamten Vorrat an getrockneten
Feigen, den er versteckt hat; mein Großmutter bringt mich an eine andere
Schule. 1945: der Krieg ist vorbei. Ich sitze auf den Schultern meines Vaters
und beobachte eine Gruppe mit roten Fahnen, die auf der Piazza della Colleggita
in Bellinzona ein Fest feiert. Schließlich finden meine Eltern ein Haus
in Chiasso, wo ein Jahr zuvor zwei U.S-Kriegsflugzeuge den Zug meines Vaters
mit Maschinengewehrfeuer beschossen hatten.
Rückblick: 1945, immer noch in Ravecchia, Bellinzona. Ich erinnere mich
wie mein Vater das letzte mal mit mir im Hausgang Fußball gespielt hat.
Ich erinnere mich an seine geographischen Karten, dass ich von diesen weit
entfernten Namen und Orten ganz aufgeregt wurde. Ich erinnere mich an ein Weihnachtsfest.
Mein Vater war unterwegs arbeiten, meine Mutter konnte ihre Traurigkeit nicht
verbergen. Sie war sehr jung und sehr schön. Sie hat einen länglichen
Schönheitsfleck am rechten Unterschenkel. Sie kleidet sich gut, auf italienische
Art. Alle anderen sehen schmuddelig aus, außer den Bauersfrauen in langen,
blumigen Röcken.
Die Grenze wurde geöffnet und die Familie konnte sich gegenseitig besuchen.
Ich erinnere mich an den fantastischen Geruch frischer Farben aus dem Il Corrierino
dei Piccoli, Bibì und Bibò, die Cartoonabenteuer von dem Signor
Bonaventura, der immer eine Million Lire gewonnen hat. In diesen ersten Nachkriegsjahren,
eine geheimnisvolle Erscheinung: mein Onkel aus Sizilien, Achille Viala, ein
Rechtsanwalt auf dem Markt von Mailand. Er hatte einen gepflegten Schnurrbart,
brachte jedes Mal Orangen mit, wenn er zu Besuch kam, mietete sich sogar eine
Loge in der Scala. Er war der dritte Ehemann von Carolina, der Schwester meiner
Großmutter Anita. Doch zio Achille starb, bevor er mich mit nach Palermo
nehmen konnte. Zia Carolina verarmte, wurde blind und zog zurück ins Tessin.
Bis zu ihrem Ende blieb sie sehr elegant. Meine Mutter wohnte bei ihr, während
sie in der Stadt studierte.
1946 mieteten meine Eltern ein Haus für den Sommer in Bordighera, nahe
der französisch-italienschen Grenze am Meer. Die lange Reise mit dem Zug
war ein Vergnügen. Ausgebombte Brücken waren durch Holzkonstruktionen
verstärkt. In Genua, zum ersten Mal, das Meer: silbernes Licht auf schwach
türkise Wellen. Die Betten in der angemieteten Hütten waren voller
Flöhe. Wir zogen in die Pension Aurora um, wohin wir noch mehrere Sommer
zurückgekehrt sind. Dort war ein Tisch für zwei Männer reserviert,
die Minen aufspürten und entschärften. Einer von ihnen hatte ein
Gesicht, das von Metallsplittern runiert worden war. Er hat mir Ping-pong beigebracht.
(Ping-pong: eins der Dinge in meinem Leben, die ich wirklich mag. Heute Nachmittag
habe ich einige Spiele mit meinem Sohn Giona gespielt.) Ich habe schwimmen
gelernt; was für eine Unterschied zwischen dem Mittelmeer und den Granitbecken
mit eiskaltem Gebirgswasser, die wir gewohnt waren. Ich gehe immer noch zu
diesen abgelegenen Wasserfällen und smaragdgrünen Becken.
Nun, Chiasso war ein seltsamer, sumpfiger Ort, große Wiesen mit grauen
Bergkühen wurden von den ‘innerstädtischen‘ Gebäuden
am Bahnhof verdeckt. Viel Kohlenrauch von den Lokomotiven in der Luft. Ich
konnte den großräumigen Güterbahnhof von meinem Fenster im
fünften Stock aus beobachten. Der Vermieter besaß eine Zigarrenfabrik.
Es gab viele Zigarrenfabriken. Sie sind alle verschwunden. Die Frauen, die
mit dem Tabak arbeiteten hatten gebräunte Finger. Es gab viele Voll- und
Teilzeit-Schmuggler. Sie trugen Rucksäcke voll Zigaretten, Schokolade
und Uhren über die Berge nach Italien. Mit dreizehn habe ich in einer
Bar richtig Poker spielen gelernt, die gerade abgerissen wird. Das Dorf, in
dem ich dies hier alles niederschreibe, liegt zehn Kilometer nördlich
von Chiasso, am südlichen Ende des Sees von Lugano. Doch diese Stadt Chiasso
war trotz all ihrer abenteuerlichen Aktivitäten langweilig, und von Anfang
an habe ich mich wie ein Fremder gefühlt. Ich bin immer noch ein Fremder.
Ich habe nie ihren Dialekt gelernt und gleich eine große Zuneigung für
die Italiener empfunden. Die Ortsansässigen glaubten, und in gewisser
Hinsicht tun sie das noch immer, dass sie richtigere Schweizer sind als die
Schweizer. Alle anderen müssen unzivilisiert und unterlegen sein. Meine
Freunde waren Italiener, die Söhne von Grenzbeamten, Schmugglern, Zwischenhändlern
und Bahnarbeitern. Unsere Bande bestand hieß die ’Innerstädtischen’.
Ein Junge aus Kalabrien verlor ein Auge durch die Spange eines Regenschirms,
die man als Pfeil benutzt hatte. Wir waren ziemlich wild und voller Rituale.
Irgendwann traf ich Floretta; sie spielte besser Fußball als all die
Jungs. Flora und ich sind immer noch Freunde. Ihr gehört dieser Hof, sie
hat ein Gebäude nach dem anderen in den frühen Siebzigern hergerichtet,
und nun unterrichtet sie Architektur in Zürich und Rom. Ihr Ehemann, André Ruchat,
war mein bester Freund in Chiasso. Er ist 1961 in einem Flugzeug der Schweizer
Armee abgestürzt. Ihre Tochter Anna wird bald Mutter werden. Flora hat
einige meiner besten Gemälde in ihrem Haus. (Jawohl ich bin auch Maler.)
Später haben wir unsere Sommerferien in Nervi, östlich von Genua
verbracht. Ich erinnere mich an blendendes Nachmittagslicht, riesige Prozessionen
roter und schwarzer Ameisen, Zikaden in den Kieferbäumen. Dort habe ich
meinen ersten Gedichtband gekauft, Il Dolore von Ungaretti, und konnte mich
der Wirkung nicht widersetzen: ich schuf einen besonderen Platz für Dichtung
in meinem Kopf und schrieb hermetische Versuche. Es dauerte Jahre, einige Grundlagen
herauszufinden: die einzige Art zu schreiben besteht darin, zu schreiben. Später
in Japan, als ich achtundzwanzig Jahre alt, und was die Dichtung betraf immer
noch sehr scheu war, hat Philip Whalen dies bestätigt: um zu schreiben
musst du dich hinsetzen und es tun.
Als ich dreizehn oder vierzehn war, bin ich oft zum Schwimmen und Lesen an
den Breggia Fluß gefahren, der heute von der Autobahn zugedeckt wird.
Alles was ich als Kind geschrieben und gemalt habe, und ich habe als Kind viel
gemalt, ist verschwunden. Zuerst durch bewusste Zerstörung nicht zufrieden
stellender Arbeiten und schließlich im Alter von dreiundzwanzig, als
ich alles in Fredis Garten oberhalb von Locarno, gründlich und glücklich
verbrannt habe. Damals war meine Mutter aus Mailand zurückgekehrt und
arbeitete im Textilgeschäft von ihrer Schwester und Fredi. Irgendwie hat
sie es fertiggebracht, zwei Gemälde aus den Fünfzigern zu retten.
Seltsamerweise erinnern sie mich an Tancredi, den ich überhaupt nicht
gekannt habe. In Ascona gab es eine Gallerie, la Cittadella, die von Gisèle
Réal geleitet wurde und abstrakte Arbeiten der Ecole de Paris ausstellte.
Gisèle hatte die besten Kunstmagazine der damaligen Zeit. Durch sie
habe ich Raffaello Benazzi getroffen und durch ihn den deutschen Maler Julius
Bissier. Im April 1965, kurz vor meiner Abreise nach Japan, habe ich ihn besucht. „Das
ist ein weiter Weg,“ war sein Abschiedsgruß am Gartentor. Als ich
in Tokyo angekommen war, schrieb seine Frau, dass er gestorben sei. Seine Kunst
ist hell und transparent, Geist und Hand sind eins.
Ich war mit Bildung zugestopft und musste mich weit davon entfernen, um verstehen
zu können. Das Leben ist interessant, weil es kompliziert ist, wie Ted
Berrigan gern gesagt hat, und er benutzte dabei die gleichen Worte, wie ich
sie im Italienischen benutzt habe. Komplikationen? Komplexitäten? Was
immer es auch ist, es war ein weiter Weg, immer wieder überraschend, niemals
vorhersehbar.
Es ist ein Wunder, wie einfach ich durch das Architekturstudium gekommen bin,
in fünf Jahren habe ich kaum zwölf Stunden Vorlesungen gehört.
Trotz meiner lockeren Art bekam ich sogar ein Stipendium und einen Grad. Paris
1960 und 1961, es war einfach für jemanden, der so entschlossen war wie
ich, Arbeit zu finden. Ich kannte Paris von vorangegangenen Besuchen. Als ich
dort hinzog, fühlte ich mich sofort zuhause. Evelyne kam bald nach. Sie
war eine Photographin aus Zürich. Wir zogen von einem Hotel ins andere.
Das beste war das Hotel Henry IV, am Place Dauphine, mit Fenstern auf die Seine
und Le Pont Neuf. Das erste befand sich in der Nähe von la Contrescarpe.
Ich arbeitete für das Atelier Candilis und Wood’s, rue Dauphine
18, und nachts versuchte ich, ungefähr in der Art von Micheaux und Tobey
zu malen. Ich las die Vorsokratiker, Laotzu, D.T. Suzuki, Levi-Strauss, Genet
und Rimbaud. Im Atelier traf ich auf Li Yen, einen Chinesen, der gerade aus
London gekommen war. Li machte mich weiter mit Taoismus und Zen bekannt, außerdem
auch mit Ezra Pound, Saint John Perse, Max Picard, Mao Tse-tung und den jungen
amerikanischen Schriftstellern. Ich hatte bereits die italienische Ausgabe
von Jack Kerouacs Subterraneans gelesen, mit meinem Freund, dem Bildhauer Raffaello
Benazzi, den ich oft in den Kiefernwäldern nahe Massa Carrara besuchte,
wo ich ein Ferienlager für Kinder im Auftrag der Anarchisten entworfen
habe. Damals kam und ging ich von meiner Wohnung in Niederdorf, der Altstadt
Zürichs. Giovanni Blumer hat mir weitere Pfade erschlossen, ein Autodidakt
besessen von Marcel Duchamp, Lautréamont, Ludwig Hohl und allem was
sich am Rande abspielte und intelligent war. Ein zeitlang hatten wir dieselbe
Freundin, Irene Aebi, die heute mit Steve Lacy singt. In Neapel traf Irene
einen Jungen von der amerikanischen Marine, ging nach San Francisco und kam
zurück mit Neuigkeiten von der Westküste, von Jack Spicer und seinem
Kreis von Dichtern.
Man sieht’s: ich kann nicht mal linear vorgehen, selbst wenn ich es versuche.
Zurück nach Paris. Die wichtigsten Dinge waren mit Evelyne Liebe machen,
mit Li Yen spazieren gehen und zu entdecken, dass Architektur wie sie so praktiziert
wurde, nicht mein Ding war. Zu quadratisch, zu hektisch, zu abstrakt, zu viele
Telefongespräche, zu viel Herumsitzen an Zeichentischen, zu viele gerade
Linien mit zu vielen Rapidographen, weit entfernt von der Straße und
der Wirklichkeit. Das Atelier war eine freundliche und ziemlich gutbezahlte
Angelegenheit, trotzdem kündigten Li und ich und suchten uns eigene Jobs.
Der wichtigste war der Umbau eines Studios in der rue d’Amsterdam für
Henry Meerson, einen bekannten Modephotographen, der Titelbilder für Harper’s
Bazaar und ähnliche Zeitschriften machte. Evelyne arbeitet für ihn
in der Dunkelkammer und er sagte gern, dass seine jungen Architekten chinesischen
und italienischen Scharfsinn mit britischer Strenge und Schweizer Präzision
verbanden. Was für ein Optimist! Unsere algerischen Zimmerleute waren
leidenschaftlich aber rauh, trotzdem hat Meerson nie gezwinkert. Wir hingen
mit seinen Modells herum, sahen unzählige Filme, waren Wandergelehrte.
Die Befreiung Algeriens stand bevor und des öfteren explodierten Bomben
im verlassenen Quartier Latin. Li lehrte mich die ersten Grundlagen von Englisch,
während ich versucht habe sein Französisch zu verbessern. Zu Frühlingsanfang
verließ ich Evelyne, zog zurück nach Zürich wegen des Examens,
kam noch mal nach Paris im Sommer, las Gregory Corsos Happy Birthday of Death
und Kerouacs Dharma Bums. Meerson zahlte freundlicherweise bar für unser
Projekt eines Sommerhauses an der Côte d’Azur, das nie gebaut wurde
und ich zog nach London in Lis Wohnung, während er die meinige am Rindermarkt
in Zürich benutzte. Ich fand Arbeit bei Smithsons, wo ich Details ihrer
Saint James Türme entwarf. Es war eine Teilzeitanstellung und so hatte
ich Zeit herumzuwandern. Das British Museum wurde mir vertraut, wie auch die
umliegenden Teehäuser. Coomaraswamy, einige Kenneth Rexroth und D.T. Suzuki über
japanische Kunst, waren unter den Büchern, die ich in Charing Cross gestohlen
habe. In Hampstead Heath ließen Chinesen von der großen Grasterrasse
aus, die London überblickt, Drachen steigen. (Man kann einen anderen Drachen
losschneiden, indem man dessen Schnur unter Zuhilfenahme des Winds mit einer
strafferen Schnur berührt. Gegen Ende 1961 war ich zurück in Zürich.
1963 machte ich meinen Abschluß an der Eidgenössischen Technischen
Hochschule. Ich reiste viel, hauptsächlich nach Italien, Frankreich, Spanien
und Tanger. Es ist ein Rätsel, wie ich arbeiten, studieren, Tag und Nacht
ein dicht gedrängtes Barleben führen, Freundinnen manchmal herzlos
verschleissen, fortlaufend lesen und ständig unterwegs sein konnte. Rückblick:
Leben in Zürich um 1963, Frühling. Ich wohne in Professor Alfred
Roth Dolders Haus, einen Bach im Wald überblickend. Man hört ihn
die ganze Zeit, wie er von Wasserfall zu Wasserfall zieht.
Christophe Beriger der Architekt war von Paris zurück nach Zürich
gezogen und bot mir Arbeit an, er half mir auch mit meiner Abschlussarbeit,
einem Konservatorium, indem er die technische Details dafür zeichnete.
Leo, der heute mit Flora zusammenlebt, half bei der Statik. Ich bekam einen
Brief von Irene, die in Rom lebte, ihr neuer Verlobter war Ingieneur, Bubi
Fiorenzi. Ich zog dort hin, und wir wurden augenblicklich Freunde. Nach einer
zweimonatigen Reise durch Griechenland mietete und renovierte ich mit ihnen
zusammen einen Kalksteinturm in Isola Farnese, oberhalb der etruskischen Ruinen
von Vejo, siebzehn Kilometer nördlich von Rom. Es gab kein fließendes
Wasser in dem Dorf. Um das sowie auch eine Buslinie zu bekommen, verband sich
Isola mit Rom. Zu dem Fest schickte Rom eine Bersaglieri Kapelle. Mehr Musiker
als Dorfbewohner waren zu verpflegen. Ein Feuerwerkskörper traf eine Scheune
in der Nacht, unzählige Feuerwehrleute kamen, ebenfalls hungrig; die Scheune
war Asche. Im Winter arbeitete ich wieder in Zürich mit Christophe, Li
Yen sowie einem jungen Architekten aus Tokyo, Minoru Shimoda. Auf den Zeichentischen
stand immer grüner Tee und Remy Martin. Einige der Projekte wurden schließlich
durch die Firma von Christophes Vater gebaut. Rückblick: Viele Jean-Luc
Godard Filme. Der gefrorene Züricher See. Ein Mädchen in München,
Berta. Wir hatten uns in Griechenland kennengelernt, Mykonos. Ihr Vater war
ein preussischer General aus dem Zweiten Weltkrieg, der Minoru besser leiden
konnte als mich. Mehrere Abstecher nach Paris und in die Provence. Der Frühling
1964 kommt: zurück nach Rom und Isola. Wir können im Lebensmittelladen,
der Bar und im Restaurant in Trastevere, da Lucia, anschreiben lassen. Ich
renoviere mit Bubi zusammen Speicher in Campo dei Fiori und Trastevere. Aufgrund
eines Lageplans für Sperlonga, auf halbem Weg nach Neapel, gelingt es
uns, den Strand von Grotta di Tiberio vor Spekulationen und Zement zu bewahren.
Irene und Bubi erzählen von einem amerikanischen Mädchen namens Judy.
Eines Morgens kommt sie im Sportwagen ihrer Mutter an. Sie studiert in Genf,
um Übersetzerin zu werden, und fährt zwischen dort und der Wohnung
ihrer Mutter in Rom hin und her.
Rückblick: Judy weint plötzlich vor Freude nachdem sie eingezogen
ist. Wir machen lange Wanderungen und Spazierfahrten, besuchen Bagnaia, Bomarzo
und Viterbo, Siena und die etruskischen Gräber von Tarquinia und die Fresken,
die ich mit siebzehn gesehen hatte. Wir besuchen Sperlonga, schwimmen im Meer,
schwimmen im Fluß Vejo und dessen Wasserfall. Sie hat eine jüngere
Schwester, Lizzi; ihr Stiefvater Doktor Hirshman, starb einige Wochen bevor
wir uns trafen. Leila, ihre Mutter, ist eine ungarisch-lettische Jüdin,
die in Paterson New Jersey geboren wurde und graue Augen hat wie ein freundlicher
Wolf. Meine Studien der englischen Sprache werden sicherer. Judy schreibt Gedichte,
sie tippt die Texte sorgsam, was ich nie tue. Wir hören Schallplatten:
Vivaldi, Bach, Bob Dylan und Roberto Murolos Vecchia Napoli (eine Schallplatte,
die ich tatsächlich gerade wieder höre.)
Rückblick: All diese Jahre hat mich mein Vater immer wieder besucht. In
Zürich haben wir uns gewöhnlich am Hauptbahnhof getroffen, wo er
geschäftlich mit dem Zug eintraf. Er kommt auch nach Isola, fährt
nach Sperlonga, trifft meine neuen Freunde. Ich habe einen ’London Smoke’ Anzug.
Manchmal trage ich die Jacke mit weißen Jeans. Fredi und meine Mutter
haben diesen Anzug geschneidert. Meine Mutter kommt nie zu Besuch. Es bin immer
ich, der sie besucht. Sie bleibt zurückgezogen, geht selten von ihrem
gewohnten Weg ab, eine Art seltsamer Würde und Scheu.
Rückblick: Judy öffnet ihre hellblauen Augen, ich nenne sie ’Judy
Mädchen, die beste im Ring’. Anfangs ist unsere gemeinsame Sprache
das Französische, das wir beide fließend sprechen, dann Italienisch
und Amerikanisch. Nach dem ständigen Wechsel meiner Freundinnen stellt
Judith Mary Dancinger eine radikale Änderung dar. Der Sommer ist vorüber,
Li Yen und Christophe kommen und wollen, dass ich zurück zur Arbeit komme,
weshalb Judy und ich für sechs Monate nach Zürich ziehen, etliche
geborgte Wohnungen durchleben, einschließlich einer Sandstein-Hütte
in einem Steinbruch bei Regensberg und schließlich mit unserem Gepäck
und der anwachsenden Sammlung von Büchern unter einem Dach in der Oberdorfstrasse
enden. Auf der Straße treffe ich Koebi, einen Schweisser, der ein abwechslungsreiches
Rudel teurer Hunde ausführt, alles Haustiere der Niederdorfer Huren.
Es gab nur wenige Boutiquen und Galerien; es war ein Teil von Zürich voll
alter Kneipen und Handwerksstätten. Manchmal tranken wir mit Friedrich
Kuhn, dem fabelhaften Maler. Ich arbeitete schwer, wie gewöhnlich pro
Stunde bezahlt. Judy lernte Deutsch und trug einen langen Kamelhaarmantel.
Leila, Bubi und Irene kamen zu Besuch aus Rom. Ich fing an ruhelos zu werden,
das Verlangen Japan zu sehen überkam mich. Frühling 1965. Wir verbrachten
zwei Wochen im Tessin, besuchten meine Eltern, Flora und Anna, Solange und
Lio Galfetti, den Architekten, Benanzzi und Bissier.
Während meiner ersten Tagen in Zürich traf ich den Historiker Alfred
Giedion und seine Frau, Carola Welcker, sowie Alberto Giacometti, den Bildhauer,
im Cafe Odeon, einem klasse Treffpunkt im Wiener Stil. Ich traf auch die Architekten
Alvar Aalto und Richard Neutra und hörte ihren Monologen zu. Giacometti
war sehr still, unsere Treffen kurz aber intensiv. Nun, all dies war vorbei,
ich war Architekt, lebte mit einer Frau, die ich liebte, und war dabei Europa
zu verlassen. Judy kam mit mir bis nach Venedig. Eine Woche lange zogen wir
herum und fuhren mit dem Boot hinaus zu den Inseln. Sie winkte mir nach, als
ich abfuhr. Ich war unterwegs nach Wien, Moskau und dem Japan meiner Vorstellung.
In Moskau war Majakovskjis Grab mit Blumen bedeckt. Am 9. Mai sah ich die Militärparade
zum Siegestag auf dem Roten Platz, zwanzig Jahre nach dem Fall von Berlin.
Während der Transsibirische Zug den Bahnhof verließ, trank ich eine
Flasche Vodka, die mir ein grauäugiger Veteran der Roten Armee angeboten
hatte. Im Zug besuchten sich die Leute gegenseitig in ihren Abteilen, in Schlafanzügen
und Abendkleidern. Ein betrunkener General verschenkte seine Auszeichnungen
an einige Kinder. Tage später, eine Stunde bevor er aussteigen musste,
suchten alle nach seinen verstreuten Orden. Ich war in der zweiten Klasse,
hatte Essensmarken, womit mir täglich zwei Flaschen Cognac zufielen, die
ich teilte mit Volodja, einem Konservenfabrikarbeiter aus Vladivostok und Simeon,
einem sibirischen Yupik Walfänger aus der Bering Straße, der auf
dem Heimweg von einem Erholungsaufenthalt auf der Krim war. Mit seinem neuen
türkischen Gewehr, schoß er vom Zug aus auf Steine. Volodja und
Simeon sprachen etwas Deutsch, von ihrer Militärzeit in Ostdeutschland
her. Ich zeigte ihnen ein kürzlich aufgenommenes Bild von Judy, sie nickten
zustimmend. Simeon hatte eine Photographie von seinem Vater in weißen
Fellen und Seehundhäuten. Unsere Wege trennten sich in Khabarovsk am Amur
Fluß. Die wichtigsten Gebäude waren neo-klassisch, Europa war so
weit vorgedrungen. Aber vom Zug aus sah man gelegentlich mongolische Jurten
und Lager in den endlos rollenden Hügeln. Jeden Morgen andere Landschaften
und andere Formen des Frühlings. Khabarovsk hatte ein großes, modernes,
neues Hotel, die Bedienungen, in Miniröcken, haben ausgesehen wie Marilyn
Monroe in Niagara Falls.
Ein neuer Vorzeigezug brachte mich zum Hafen von Nakodka und eine russische
Fähre nach Yokohama, durch den Tsugaru Kaikyo, überfüllt mit
kleinen Fischerbooten aus Holz. Entlang der Küste von Honshu sieht man
viele Dörfer unterhalb steiler, grüner Berge, gerade so wie in den
klassischen Rollbildern des Fernen Ostens. Dies ist der Grund, weshalb man
Landschaft mit Sansui bezeichnet: Berge und Wasser. In Yokohama warteten Minoru
und Günter Nietschke, ein Freund aus London, auf mich. Wir gingen Sushi
essen und in ein öffentliches Badehaus und schließlich in ein kleines
Haus in Tokyos Nishi-Ogikubo Distrikt. Günters Freundin Fujiko sprach
Deutsch und Englisch. Nachdem ich zwei Wochen in den Bars von Shinjuku und
den verschiedenen Stadtteilen von Tokyo verbracht hatte, zog ich mit Minoru
in ein einstöckiges Gasthaus, wo ich damit begann, gesprochenes Japanisch
und Chinesische Schriftzeichen, sowie Östliche Literatur, einschließlich
dem Genji Monogatari, Osamu Dazai und den Kunstbüchern Fenollosas, zu
studieren. Täglich ging ich in die Museen und ins Noh Theater, dem Kanze
Kaikan. Noh ist ein Heilungsprozeß, Verwirrungen schwinden durch die
Wiederholung lebendiger, tragischer Handlungen. Erleuchtung durch Stimme, Musik
und Tanz.
Auf den überfüllten Gehwegen vor dem Fugetsudo Kaffeehaus, in Shinjuku,
traf ich Nanao Sakaki, den japanischen Wanderdichter und bald darauf seine
formlose Bun Akademie. Nanao hatte und hat immer noch eine bemerkenswerte soziale
Mobilität. Obdachlose Menschen unter Brücken boten Tee an und kurz
darauf saßen wir in einer verborgenen Luxusvilla. Er hatte Milarepa in
den Dialekt Tokyos übersetzt. Viele glaubten, er selbst sei Milarepa.
Dann traf ich eine junge Weberin namens Akiko Sato, und als sie nach Kyoto
umzog, war es Zeit für mich, ebenfalls umzuziehen. Völlig unerwartet
gab Minoru seinen Job auf und kam mit. Akiko mietete später Teile eines
Bauernhauses auf dem Land, in Ohara Mura, nördlich von Kyoto.
Ich musste mich entscheiden, im Herbst kam Judy. Wir mieteten ein viereinhalb
Tatami Zimmer (ungefähr neun Quadratmeter) in einem Wohnhaus in einer
Seitenstraße des Ginkaku-ji, dem Silber Pavillon Tempel. Minoru bezog
ein Zimmer neben uns. Auch Judy mochte Japan sofort, und begann damit, Studenten,
die Minoru und seine Zengakuren-Freunde anschleppten, Englischunterricht zu
geben. Außerdem fing sie an, bei Akiko das Weben zu lernen. Der Winter
war wunderbar, doch das Geld aus Zürich aufgebraucht. Über den alten
Isaburo Ueno, dem rationalistischen Architekt, der mit einer Wiener Designerin
namens Lizzi-san verheiratet war, konnte ich als Architekt in dem geschäftigen
Osaka arbeiten, ein beeindruckender Gegensatz zu dem ruhigen Kyoto. In Osaka
unterrichtete ich außerdem einen mode bewussten Ikebana-Leher in Französisch,
der lernen wollte wie man Chardin, Dior, Champs-Elysées und ähnliches
buchstabiert. In dem Sushi Restaurant, in dem die Unterrichtsstunde für
gewöhnlich endete, sagte er mir eines Tages, dass ich ein Beatnik sei.
Wir trennten und als Freunde und haben uns nie mehr wiedergesehen. Unterdessen
war meine Einstellung zur Architektur zu japanisch für die Firma in Osaka.
Sie hatten einen Europäer eingestellt, um an den neuen Stoff heranzukommen,
doch selbst der Honda Wolkenkratzer war zu japanisch. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr
ich von einem Austauschstipendium zwischen meiner Schule in Zürich und
der Universität Kyoto, und dank Gaudenz Domening, dem Architektur-Antropologen,
traf ich den sehr offenen Masuda-sensei, der jeden Samstagnachmittag einige
ausländische Studenten in traditioneller Kunst und Kultur unterrichtete.
Ich bekam das Stipendium und war wieder in der Lage zu tun, was ich wollte.
Eines Nachmittags kam Nanao zu Besuch, begleitet von Gary Snyder, der mich
mit Philip Whalen bekannt machte, dem Dichter, der ganz in der Nähe, auf
der anderen Seite des Shirakawa (Weißen Flusses) unserer Gedichte, lebte.
Schon bald machte Phil mich mit Cid Corman bekannt, der schon lange hier ansässig
war. Hier befand ich mich mitten unter drei Dichtern, die über ihre Arbeit
sprachen. Ich fing an, meine Sachen zu tippen. Phil beantwortete ausführlich
jede Frage die ich zu den unterschiedlichsten Themen hatte. Gary war sehr aktiv,
hatte solide Vorstellungen über die Alternativ-Bewegung, Stammesgemeinschaften
und Zeugs. Cid war ruhiger und geistreich, hatte europäische Verbindungen,
die ich zu schätzen wusste. Irgendwie durchbrachen diese neuen Freunde
die verzauberte Abgeschiedenheit, in der Judy und ich mit Akiko und Minoru
lebten. Bei Gary traf ich Rexroth und andere. Frühling 1966 kam. Judy
war schwanger. Wir bezogen eine größere Wohnung in der Nähe
des Nanzen-ji, von wo man einen Park überblickte, der täglich von
einer großen Anzahl von Gärtnern gepflegt wurde. Trockene Kiefernnadeln
wurden Stück für Stück aufgelesen. Das Jahr in unserem winzigen
Paradieszimmer war vorüber. Damals gab es noch keine schmierigen Touristenfallen
entlang dem Philosophenweg am Kanal unterhalb des Higashiyama, sondern steile
Zedernwälder, Kiefern und Rhododendren.
Giona wurde am 9. Oktober 1966 im Baptisten Krankenhaus geboren, das in den
dreißiger Jahren von Ueno-sensei gebaut worden war, der mich in sein
International Design Institute einlud. Jeden Montag ließ ich die Studenten
ihr Traumhaus entwerfen und große Modelle bauen. Ueno unterstützte
dies, wir waren weit entfernt von den pseudo-modernen Spekulanten in Osaka.
Japanische Häuser werden nach einem 3 x 6 Fuß Tatami Muster entworfen,
klar erkennbar durch dünne Holzrahmen. Ein komplizierter Umstand, auf
den man sich konzentrieren musste. Rückblick: Spiele mit Giona auf unserer
Terrasse. Werfe ihn in die Luft und beobachte wie er lachend aus dem Himmel
in meine ausgestreckten Arme zurückfällt.
Phil kam zu Besuch und kündigte sich an, indem er auf einer Schnecken-muschel
blies. Er gab mir Gertrude Stein, Olson und Blake zu lesen und ich ging mehrmals
durch seine eigenen Bücher wie Every Day. Mündliche Überlieferung.
Heute ist er ein Roshi, ein Zen Lehrer in San Francisco, Soto Tradition. Meine Übung
war immer ziemlich ungezwungen, Meditation im Gehen ist mein Weg; ich hege
starken Widerstand gegen alles was vorschriftsmäßig passiert. Dennoch
studiere ich täglich das Diamand Sutra und Lao Tzu. Ich versuche deren
Wesen im Leben und in der Kunst, die nicht mehr voneinander getrennt sind,
zu praktizieren, eine tägliche Angelegenheit, die sich durch Notwendigkeit
und Veränderung erneuert. Ich liebe Veränderungen, im Sinne von John
Cage und Duchamp. Rückblick: Nanao, Gary, Phil, Baby Giona und Judy auf
einer hölzernen Terrasse über dem Westufer des Kamo Flusses. Min
Min ein beliebtes chinesisches Restaurant. Kyoto ist die ville toute proustienne,
die altertümliche Hauptstadt unseres Geistes. Cid ist mehr Einzelgänger,
mit Schreiben und dem Herausgeben seines Magazins Origin beschäftigt.
Wir haben lange tête-à-tête Gespräche, seither schreiben
wir uns über all die Jahre hinweg fast wöchentlich. Plötzlich
erhalte ich eine Einladung, Design in Iowa zu unterrichten. Rückblick:
Die Heriatsurkunde meiner Großeltern eingerahmt im Hausflur. Mendocino
Co. – erst später entdeckte ich, dass Co. County bedeutet. Die ganze
Familie sagte immer, „oh wir haben einen Brief aus Mendocino Co. erhalten“ und
das war’s. Großvater hat es nie erklärt. Er war stolz auf
die Schönheit seiner Kühe, sie erhielten Auszeichnungen für
die am besten aussehenden Hörner, die Urkunden hingen in seinem sehr ordentlichen
Stall. Egal, Iowa wurde aufgegeben, da sich ein anderer Lehrauftrag an der
Cal Poly in San Louis Obispo auftat.
In der gleichen Woche verschwand unser Geld aus dem Buch, in dem es versteckt
war, Cid bot sich an, die Summe zu ersetzen und wir zahlten sie mit der ersten
kalifornischen Gehaltszahlung zurück. Mit Gary ging ich nach Kagoshima,
Kyushu und nach Suwanose Jima, einer Vulkaninsel, die Teil des Zehn-Insel-
Archipels ist, das sich nach Okinawa hin erstreckt. Ich half Nanao und seinen
Freunden, einen Strohschuppen zu bauen. Wir rodeten einen Bambuswald für
ein Süßkartoffelfeld. In der Zwischenzeit wartete Judy mit Giona
in Garys Haus nördlich des Daitoku-ji Tempels. Als ich starkes Papier,
Klebestreifen und Schnur kaufte, um unsere Sachen nach Europa zu schicken,
stellte ich fest, dass ich fließend Japanisch sprach, gerade als ich
im Begriff war wegzugehen. Unsere Absicht war es, innerhalb der nächsten
zwei Jahre nach Kyoto zurückzukehren. Es ist nicht passiert. (Ich kam
neunzehn Jahre später zurück für einen intensiven Monat mit
Wanderungen, Besuchen, Lesungen und Ausstellungen. Kyoto fühlt sich immer
wie zuhause an. Andere Orte die sich wie zuhause anfühlen: Tessin insgesamt,
Mailand, Venedig, Rom, Westsizilien, Paris, San Francisco und das gesamte Kalifornien.
)
Das Frachtschiff Washington Bear im Hafen von Kobe: alles war riesig. Eisschränke
mit kiloweise Roastbeef, literweise Milch und Säften: Amerika. An enge
Zimmer, kleines Geschirr und Tassen gewöhnt, bereitete uns das Boot irgendwie
auf die riesigen amerikanischen Räume vor. Auf Bitten von Phil und Gary
erwartete uns Jim Koller, der Dichter, am Pier 40 im Hafen San Franciscos.
Er gab Coyote’s Journal und Coyote’s Books heraus, hatte ein Gesicht
als sei es mit einer Axt behauen, und wir sind seither enge Freunde. Jim fuhr
uns in seinem grünen 65er Chevy Pickup über die Golden Gate Brücke
nach Mill Valley. Die Mahalila Great Delight Society, Hisayo und Albert Saijo,
Jim Hatch, Jay Blaise. Gras rauchen war die Hauptbeschäftigung zusammen
mit dem Entwerfen von Plakaten für Rockbands. Dort traf ich die Dichter
Lew Welch und Joanne Kyger.
Nachdem wir eine Woche lang ein Gefühl für den neuen Kontinent bekommen
hatten, fuhr man uns nach San Louis Obispo. Der Kunstrasen und die verklemmten
Gebäude des Campus ließen mich erstarren. Wir kauften einen alten
VW Käfer, mieteten die Hälfte eines Doppelhauses im spanischen Stadtteil,
nahe der Southern Pacific Eisenbahnlinie. Das Pfeifen, das die endlosen Güterzüge
ankündigte machte, dass ich mich besser fühlte. Ich war ein extremer
Lehrer, gab all meine Energie immer bemüht selbst etwas zu lernen. Giona
fing an zu gehen und zu sprechen. Er stieg auf jede Mauer und jeden Baum, an
die er herankommen konnte. Jim Koller kam zu Besuch, ein zweites Mal mit Phil,
der aus Japan zurück war, um dessen gesammelte Gedichte herauszugeben,
die Bill Brown On Bear’s Head nannte. In SF machte Phil uns mit Richard
Brautigan, Lawrence Ferlinghetti sowie Michael McClure bekannt und Allen Ginsberg
besuchte uns im Swiss American Hotel, am Broadway. „Das ist Amerika,“ lachte
er, als er mich in eine Drogerie führte, die mit Pornomagazinen vollgestopft
war. Mein Amerikanisch wurde besser, obwohl ich immer noch mit einem italienischen
Akzent spreche. Jaime de Angulo wurde ein weiterer Held von mir. Seine Abenteuer
und sein tragisches Leben, seine Schreibe, seine Zeichnungen und Aufzeichnungen
der Musik der Eingeborenen sind einmalig. Der Lehrauftrag ließ nicht
genug Zeit zum Schreiben und, zum Bedauern von Dekan George Hasslein, gab ich
nach einem Jahr auf. „Ihr werdet verhungern,“ sagte er mit einem
traurigen, armenischen Lächeln: „Ich habe jederzeit einen Job für
dich, wenn du zurück willst:“ In den frühen 70ern bin ich zweimal
für eine Woche und fünfhundert Dollar zurückgegangen.
Mein Freund in San Louis Obispo war ein Bildhauer, der kinetische Fahnen und
Fische aus Metal machte, deren Rippen im Wind klangen. Jack Augsburger starb
1979. Bei der Eröffnung meiner Ausstellung bei Loebs in Bern weinte ich.
Lewis MacAdams und Kathy Acker waren dabei. Jack ist gestorben, erklärte
ich ihnen, doch sie hatten ihn nicht gekannt. In San Francisco hörte ich
Janis Joplin im Fillmore; sie war Dynamit. Jerry Garcia, the Fugs und Jimi
Hendrix habe ich in Santa Barbara gehört. Meine Schüler hatten falsche
Eintrittskarten gedruckt, um hineinzukommen, sie waren sehr politisch, was
Eintrittspreise betraf. In Bolinas, Bill Brown war Schriftsteller und Gärtner,
Jim und Jack Boyce, der Maler, arbeiteten für ihn. Wenn er in der Stadt
war, ging er gewöhnlich ins San Gottardo auf der Columbus Avenue zum Trinken,
dessen Besitzer einst im Tessin mit meinem Vater zur Schule gegangen war. Mein
Vater empfahl die Adresse als gutes Hotel, doch hatte das San Gottardo nur
eine Bar aus Zink und war zum Aufenthaltsort für Säufer geworden.
Jim hatte einen großen Malamute namens Thomas Thomas und bald auch eine
neue Freundin, Cassandra. Später wurde sie eine bekannte Barkeeperin im
La Fonda Hotel in Santa Fe.
Es war an der Zeit Europa wiederzusehen. Wir schickten alles zurück und
irgendwie verschwand dabei das Gemälde, das mir Yves Klein im Januar 1957
geschenkt hatte, auf ewig. Das kleine blaue Ding ist heute ein Vermögen
wert. Es war ein magisches Erinnnerungsstück an unsere Begegnung in der
Gallerie Apollinaire, ein Zeichen von Vision und Großzügigkeit.
Klein starb im Juni 1962. In San Francisco sagten wir „Auf Wiedersehen“ zu
Phil und flogen nach Denver und Colorado Springs, wo wir den Cadillac von Judys
Onkel zu Schrott fuhren. Dann weiter nach Memphis Tennessee zu ihrem Großvater,
Zeide Nash, der Judys Hochzeit mit einem Nichtjuden ablehnte. Doch als Zeide
den kleinen Giona vom Fenster seines roten Backstein-Wohnhauses aus sah, winkte
er uns hinauf. Er lebte umgeben von Musiknoten und Büchern in Hebräisch,
Jüdisch, Lettisch und Russisch, verschiedenen Musikinstrumenten sowie
einer Kakteensammlung. Seine Nachbarn waren Schwarze, dieser winzige alte Lette
war der einzige Weiße im ganzen Block. Als junger Mann war er vor den
militärischen Repressionen des Zars geflohen, nachdem die Revolution 1905
gescheitert war; zuerst nach England dann nach New York, und weiter die unterschiedlichsten
Jobs ausübend. Von Memphis flogen wir nach New York, das brütend
heiß war. Deshalb besuchten wir Vermont. Der zweite Aufenthalt in der
Stadt war besser, doch mussten wir weiter nach Southampton. Das Schiff war
eine schwache Nachahmung der Bootsfahrt in Célines Voyage au Bout de
la Nuit. Alle erhoben sich bei den Nationalhymnen und der Kapitän spielte
sie sämtlich. Wir sind nie aufgestanden und mussten fortan unsere Mahlzeiten
in der Bar einnehmen. Leila war in der Zwischenzeit mit ihrem neuen englischen
Ehemann nach Brighton umgezogen, der dort eine Sprachschule betrieb. Diese
Ehe hielt nicht lange. Später kam dieser nervöse Engländer in
seinem Wohnwagen in Südfrankreich ums Leben. Wieder in London. Rückblick:
Fahr mit dem Bus durch die Oxford Street, Charing Cross Road usw. Giona ist
zweiundzwanzig Monate alt und völlig ausgelassen. In Zürich holt
uns Christophe vom Flughafen ab, fährt mit uns nach Saanen im Berner Oberland
wo er Zimmer in einem Chalet mietet zusammen mit Li Yen und Kim Lawrence. Wir
besuchen die Vorträge von Krishnamurti. Er hat selbst etwas zu den Vorgängen
in Paris im Mai 1968 zu sagen und übermittelt bahnbrechende Einsichten.
Ich höre ihn noch einmal 1972 in Ojai, Kalifornien. Ein Eichelhäher
fliegt an ihm vorüber, gerade als er das Wort „Vogel“ ausspricht.
In Zürich sagte Giovanni Blumer, der in Shanghai gelebt hatte: „Dies
ist keine Zeit für Dichtung sondern für Revolution.“ Ich tat
was ich konnte, doch schrieb ich weiter. Nach einem langen Besuch im Tessin
zogen wir zu Christophe nach Zürich in die Forchstraße 38. Giona
war ziemlich aufgedreht, er und Luca Zanier warfen Holzspielzeug auf die Dächer
der Straßenbahnen und auf den Gehweg vorm Haus. Der blonde Friulane Luca
und der dunkle Italiener-Schweizer-Amerikaner Giona lieferten sich wilde Kämpfe,
wir trennten sie lediglich wenn es unbedingt nötig war. Nette Kinder.
Außer mit unseren eigen Projekten waren wir bei Christophe mit den italienischen
Gastarbeitern und der außerparlamentarischen Linken beschäftigt,
die bereits in mehrere Fraktionen gespalten war. Ich traf Urban Gwerder, den
Dichter, entwarf etliche Seiten für sein Untergrund Magazin Hotcha!
Als der Frühling kam besuchten wir erneut das Tessin. Mein erster Architektur
Lehrer , Rino Tami, bot mir die Zusammenarbeit am Entwurf der Chiasso San Gotthard
Autobahn an. Ich blieb eisern. Ich brauchte all meine Zeit. Wir zogen nach
Rom, mieteten eine Wohnung in einem Haus ohne Fahrstuhl in Trastevere ganz
in der Nähe von Zev, dem alten Familienfreund Judys, wo ich mein erstes
Prosabuch, Nadamas, schrieb. Ich besuchte die Proben von Steve Lacy im ersten
Stock, einem Ort, den er von den Musica Elettronica Leuten geerbt hatte. Dort
traf ich viele Musiker, darunter Cornelius Cardew und Mal Waldron, den Pianisten.
Steves Sopransaxophon inspirierte den Rhythmus meines Buchs. Wir hatten uns
schon früher getroffen, in Mailand im Haus von Ettore Sottsass und Fernanda
Pivano. Nanda ermutigte mich das niederzuschreiben wovon ich sprach, sie war
mit Whalen befreundet und sorgte dafür, dass ich Burroughs und Brautigan
sowie andere für ihre Anthologie L’Altra America übersetzte.
Ich schlug vor, Joanne Kyger und James Koller mit aufzunehmen, was sie auch
tat.
Giona verbrachte seine Zeit damit, auf der Piazza Santa maria di Trastevere
zu spielen, außerdem erbettelte er sich, zusammen mit seinem Babysitter
Marino Zanier Luftballons, die er dann wieder verkauft. Edoardo Cacciatore,
der Dichter, kam mit Leila zu Besuch. Ich war am Tippen. „Ein Dichter,“ sagte
er, „welch eine Bestimmung!“ Von Edoardo hörte ich zum ersten
Mal über Adriano Spatola. Ich traf Giulia Niccolai, die ebenfalls für
Nandas Anthologie Übersetzungen machte. Giovanni Blumer kam aus dem Norden
zu Besuch. Er musste Nanni Balestrini sehen, den Dichter, der das Monatsmagazin
Quindici herausgab. Ich begleitete ihn, und wir endeten schließlich im
Haus von Adriano Spatalo, das, wie sich herausstellte, nur um die Ecke von
unserer Wohnung lag, und was für eine Überraschung - Giulia lebte
mit ihm zusammen. Bei unserem zweiten Treffen fragte Adriano mich, was ich
machte. Nachdem er etwas davon gelesen hatte, sagte er: „Ich werde das
veröffentlichen. Der Titel: One of Those Condor People.“ Einige
Wochen später gingen wir nach Neapel und von dort weiter mit dem Boot
nach Palermo und Westsizilien. Wir lebten ein Jahr lang in Partanna, in der
Hütte Nummer 492, unter den Menschen, die ihre Häuser und alles in
dem Erdbeben von 1968 verloren hatten.
Ich lernte in der Leonardo da Vinci Fahrschule Autofahren und arbeitete mit
einer linken Gruppierung zusammen, dem Centro Studi e Iniziative della Valle
del Belice, an dem Versuch Kooperativen für den Wiederaufbau zu organisieren.
In Partanna, 1969-1970, trafen wir Franco Giuliani aus Triest, Sonia Trincanato
und Gianantonio Pozzi aus Venedig, Neno Negrini, der heute Bauer in Bolivien
ist, sowie Pietro Gigli, den freischaffenden Photoreporter. Die Gruppe war
eine Absplitterung von Danilo Dolcis gewaltlosem Unternehmen. Wir begannen
eine Bewegung zur Kriegsdienstverweigerung, unterstützten ”keine
Steuern an diesen Staat”, blockierten, wenn notwendig, die Hauptstraßen,
organisierten Wiederaufbaubemühungen für die Leute durch die Leute
und für neue Jobs. Fast 100.000 Menschen lebten in den Hütten, oftmals
unter unwürdigen Zuständen. Die örtliche Mafia, die Behörden,
die Carabinieri sowie die Landbesitzer hatten etwas gegen unsere Aktivitäten.
Im Frühling 1970 kam mein Vater und brachte einen großen Kühlschrank
für unsere Gemeinschaftsküche. Christophe reparierte die Türen
und Fenster an unseren Hütten. Bubi Fiorenzi kam aus Siracusa zu Besuch,
wo er eine Ruine auf den Klippen über der Bucht renoviert hatte.
Spät im Frühling kam mein Buch, das Adrianos Edizioni Geiger verlegt
hatte, heraus. Positive Reaktionen kamen von Seiten Mary de Rachelwiltz und
Nelo Risi. Adriano verbreitete das winzige Buch über ganz Italien und
publizierte auch weiter meine Arbeit. Adriano war ein großer, rosiger
und heiterer Mensch, bedeutungsvoll in Hinsicht auf Experimente und Erfahrungen
der Dichtung, verliebt in Giulia, Schach, Poker und Alkohol.. Er hatte gerade
Towards Total Poetry veröffentlich, was sich später zur Performance-Dichtung
hin entwickelte. Von 1971 ab waren wir (Adriano, Giulia, Corrado Costa und
ich) mit Adrianos Magazin Tam Tam beschäftigt, das Giovanni Anceschi,
der Sohn von Professor Luciano, entworfen hatte. Irgendwie war ich Teil der
italienischen Avantgarde Lyrik Szene geworden.
Im Spätsommer hatte ich einen Traum auf Meskalin: Flecken gefrorenen Blutes
auf einem Gletscher. Ich teilte den sizilianischen Genossen mit, dass ich in
einem Monat aufhören würde. Sie waren in endlose Streitereien und
Zusammentreffen verwickelt, Kämpfe auf politischer Ebene. Es machte keinen
Spaß mehr. Ich liebte die Sizilianer und unsere billige, vorgefertigte
Hütte, die dünnen grünen Wände und die Lehmstraßen
gesäumt von Opuntia-Kakteen, die Mandelhaine, die Ruinen von Partanna,
den blauen Himmel, die griechischen Tempel von Selinunte und Segesta. Doch
wir mussten gehen. Ich verfasste einen Bericht, Belice lo stato fuorilegge,
der auch prompt von Feltrinelli in Mailand veröffentlicht wurde. Adriano
druckte meinen zweiten Gedichtband, Ein anderes Erdbeben, und half bei der
Bearbeitung und Herausgabe des römischen Prosabandes Nadamas.
Wir zogen nach Venedig, wohnte bei Sonia und Gian in San Tomà zusammen
mit Maurizio Allegretto. Ich war vollkommen besessen vom Schreiben. Judy arbeitete
als Übersetzerin bei den Vorträgen von Buckminster Fuller. Wir wurden
Ezra Pound vorgestellt, der damals in völlige Schweigsamkeit verfallen
war. Ich empfand Respekt für den gebrechlichen alten Mann; wir hatten
nie mehr als Kontakt mit den Augen. Außerdem spielte ich Schach mit den
Gondolieren in der Trento Bar. Giona war aufgrund seines sizilianischen Dialekts
sehr beliebt. Wir fanden in Venedig keinen Platz, den wir mieten konnten und
so erwies sich im Winter 1970-71 eine Ferienwohnung oberhalb von Lugano als
der geeignete Ort, um in Depressionen zu verfallen, mich in Schwierigkeiten
zu verwickeln, die ich mir selbst geschaffen hatte. Judy beschützte mich
tapfer und ging mit Giona Schlittenfahren. Die wortlose Sorge meines Vaters
war echt. Ich zog zurück nach Zürich und arbeitete, während
Judy und Giona sich meistens in London bei Leila aufhielten. Es war ein wirklich
schrecklicher Winter. Aus Kalifornien traf die Nummer Neun von Kollers Coyote’s
Journal ein und gab mir einen Aufschwung. Ich schrieb ein Schlüsselgedicht:
Meine Dämonen
Ich seh sie herauskommen
selbst von dort wo
Ich dachte sie seien ausgetrieben
sie sagen es ginge ihnen gut
wir sind im Begriff Freunde zu werden.
Adriano hat es veröffentlicht, und auch Jim und Tom Longville in seiner
Grosseteste Review in England. Der Frühling 1971 kam, ein Angebot von
Flora Ruchat wurde Wirklichkeit. Es gab einen Platz für uns in einem Komplex
von alten Häusern in Riva San Vitale, die einen großen Hof umgeben.
( Ich bin immer noch dort. Hier gibt es außerdem einen großen Garten
sowie einen Fluß mit Forellen, der oft mit den Chemikalien aus den umliegenden
Fabriken vergiftet ist.) Wir zogen sofort ein und verbrachten den Rest des
Sommers zurück in Sizilien. Wir gaben unser vielsprachiges Lyrikmagazin
Montagna Rossa heraus, benannt nach den Klippen des Monte Generoso. Zu Weihnachten
waren wir wieder in Kalifornien, wo wir auf Gary Snyders neues Haus in Kitkitdizze
aufpassten. Es war ein Winter der Schneestürme, des Schreibens und dem
Ausschneiden von Büschen auf dem Gelände. Nanao und Allen Ginsberg
besuchten uns. Der Frühling zog mit Manzanitablüten und Tigerlilien
in die Vorberge der Sierra Nevada ein. Auf einer Reise in den Südwesten
und nach Los Angeles mit Marian und Chuck Dockham, Freunden aus Japan, sahen
wir ein UFO im Prescott National Forest in Arizona, als wir im Freien kampierten.
Wir besuchten Phil und Joanne in Bolinas, trafen Robert Creeley, wohnten bei
Jack Boyce in seiner Hütte, die er aus dem alten Holz der Oakland Bridge
Eisenbahnlinie gebaut hatte.
Zurück in Europa im Frühsommer 1972: Ich war verantwortlich für
den Großteil der Ausgaben 3 und 4 von Adrianos Magazin Tam Tam. Judys
Name taucht nicht immer in diesen Veröffentlichungen auf, doch stand sie
im Mittelpunkt von allem was ich gemacht habe. Außerdem übersetzten
wir Jaime de Angulos Indian Tales ins Italienische und verbrachten erneut Zeit
in Rom, Sizilien und Sperlonga. Dann plötzlich schrieb Chuck von einem
Stück Land neben dem von Gary, das zum Verkauf stand; wir kauften es mit
Leilas Hilfe. Ich war auf meinen Winterspaziergängen durch das Grundstück
gekommen, kannte die Wiesen von China Flats, Schwarzeichen und Zuckerkiefern
und weit unterhalb die Felsbrocken des Yuba Flusses. Dort war Lew Welch hingegangen
und hatte sich wahrscheinlich erschossen. Er wurde niemals gefunden. Ob du
es glaubst oder nicht, in jenem Winter besuchte er Kitkitdizze, bat Judy um
Kaffee, bedankte sich bei ihr als er direkt durch die geschlossene Haustür
hinausging. Giona und ich befanden uns beim Briefkasten, fünf Meilen Feldweg
dazwischen.
1973 beantragte ich ein Einwanderungsvisum. Endlose Schwierigkeiten mit dem
Amtsschimmel. Als die Papiere im Frühling 1974 eintrafen, hatten Judy
und ich uns getrennt. Wir empfanden das schmerzhafte Gefühl, gemeinsam
nicht mehr weiter wachsen zu können. Die Trennung war schwierig für
Giona, der sieben Jahre alt war und die zweite Klasse in Riva besuchte. Ich
ging mit gebrochenem Herzen nach Sizilien, wohnte bei Bubi in Siracusa und
anschließend bei Vreni und Claudio Volonte in Capena, in der Nähe
Roms, als Judy anrief, um mir mitzuteilen, dass meine Greencard eingetroffen
war. Vom Flughafen in San Francisco aus fuhr mich Richard Baker Roshi, der
Zen Meister, nach Green Gulch in Marin County, wo ich auf meinen verlorenen
gegangenen Lederrucksack wartete. Mit dem Greyhound kam ich bis nach Nevada
City und trampte anschließend den Highway 95 hinauf auf die Ridge und
durch die Mondlandschaft der Goldgräberzeit zu unserem Grundstück,
Elakawee. Niemand wusste von meiner Ankunft, sie waren alle überrascht,
aber warmherzig. Ich half Snyder beim Bau seiner Garage und eines Ramada, wodurch
ich mir einige grundlegende Fähigkeiten der Zimmerei erwarb. Gary ist
ein äußerst konkreter und fähiger Mensch. Anschließend
arbeitete ich mit einer örtlichen Gruppe von Zimmerleuten, bis ich das
Gefühl hatte, selbstständig bauen und endlich meine Schwierigkeiten
in Bezug auf praktische Dinge überwinden zu können. Mit Chuck zusammen
baute ich ein leichtes Fachwerk aus neun Balken, mit einem langen Dachfenster
am First und großen Traufen. Es sieht aus wie ein Vogel, der im Begriff
ist wegzufliegen. Es steht noch immer dort mit den zahlreichen Anbauten, die
Judy hinzugefügt hat. Die in Sand gegossenen Verschalungsbolzen rettete
ich aus dem Wasserlauf einer aufgegebenen Goldmine hoch in den Sierras.
Viele Leute haben geholfen, an einige kann ich mich nicht mehr erinnern, da
mir mein Tagebuch vom Sommer 1974 gestohlen wurde: Ich erinnere mich an Neal
Pinholster, Bob Erikson, Nebraska Bill, Peter Orlovsky, Lloyd Kahn, Piero Resta,
Peter Warshall, Steve Sanfield, Joel Goodkind, Dale Pendell, Jack Augsburger,
Peter Blue Cloud, Robby Thompson, Tania die Bauchtänzerin, Fred Brunke,
Cathérine und Hélène Attié und an andere, deren
Namen ich vergessen habe. Für den San Francisco Chronicle waren wir Klapperschlangen-Hippies.
Im Frühherbst hing Hélène, achtzehn Jahre alt, aus Paris,
ihren Seidenrock in den türlosen Türrahmen. Ich ging in die Bay Area,
nach Bolinas, San Louis Obispo, Big Sur und Los Angeles, Berichte darüber
befinden sich in meinem zweiten Roman Quarantuno. Gegen Ende des Winters flog
ich von San Francisco nach Genf, nahm einen Zug in den Süden bis Montélimar,
einen Bus und ein Taxi bis in das Dorf in der Ardèche, wohin Judy gezogen
war.
Es regnete stark in La Bastide de Virac als Giona aus einem alten Steinhaus
gerannt kam. Wir umkreisten und umarmten uns mehrere Male, hielten uns fest
und lachten in dem strömenden Regen. Ich blieb zwei Wochen, fällte
Holz für den Kamin und den Herd, dann fuhr ich zurück nach Riva.
Unsere beiden Zimmer waren leer, Dinge waren gestohlen worden, ich fühlte
mich wie ein vollkommen Fremder. Gianantonio kam aus Venedig in einem Fiat
500. Wir fuhren kreuz und quer durch Nord- und Mittelitalien; er machte einen
16mm Film, Al Paese dei Balocchi. Mehr und mehr Magazine und Bücher wurden überall
veröffentlicht, andere waren am Entstehen, Wort auf Wort wie Stein auf
Stein oder Welle auf Welle. Im darauf folgenden Winter entschloß ich
mich, nach Kalifornien zurückzukehren. Ich besuchte Paris und nahm an
der Buchmesse in Le Havre 1975 teil, wo ich zusammen mit Giulia und Adriano
las. So traf ich Julien Blaine einen weiteren lebenslangen Freund.
Die Nacht bevor ich von Luxenburg wegfliegen wollte, geriet ich mit Giovanni
Blumer in einen Autounfall; Marcello Angioni war der Fahrer. Er ist ein Dichter
aus Sardinien und Übersetzer für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.
Ich wurde als einziger verletzt und verbrachte drei Monate im Sainte Elisabette
Krankenhaus. Marcello brachte täglich Bücher, Getränke und Nahrungsmittel.
Wir planten ein internationales Lyrikmagazin, Abracadabra, das bis zur fünften
Ausgabe erschien. Harry Hoogstraten, ein weiterer Freund aus Japan, und Suse
Hahn kamen aus Amsterdam und wurden fester Bestandteil des Projekts. Steve
Lacy, Adriana Casellini, Udo Breger und mein Vater kamen zu Besuch. Als ich
aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war mein rechter Fuß für immer
verkrüppelt, und ich konnte nicht gehen. Nach zwei Wochen bei Marcello,
umsorgt von seinen fünf Kindern und seiner schwedischen Frau, Louise Gigia,
fuhr ich mit dem Zug nach Hause. Es bedurfte monatelanger Therapie, bis ich
ohne Krücken gehen konnte. Der Besuch von Robby Thompson aus Kalifornien
war eine große Hilfe.
Zahlreiche Leute fingen an, meine Bilder zu kaufen. Ich kehrte zum Malen zurück
während ich das Haus baute. Einmal erkrankte ich an einer Lymphdrüsenvergiftung,
die Eidechsen verursacht hatten. Ein Volksmedizinbuch das Marian gelesen hatte,
lieferte das Heilmittel. Die Ärzte konnten die Ursache der geschwollenen
Drüsen nicht ausmachen.
Egal, es war gegen Ende 1976. Ich konnte wieder gehen und besuchte Suse in
Amsterdam. Die erste Nummer von Abracadabra erschien im April 1977. Renée
und Maurice Ziegler boten mit meine erste Ausstellung in ihrer Galerie an,
die mit Künstlern wie Meret Oppenheim, Jean Tinguely und Kimber Smith
gearbeitet hatte. Während die Ausstellung lief, besuchte ich Giona und
Judy in Ardèche sowie Julien in Marseille. Jim kam nach Europa; wir
fuhren gemeinsam mit Harry in einem roten, gemieteten Wagen, mit einer Koyotenpfote
auf der Windschutzscheibe, von einer Lesung zur nächsten: Amsterdam, Rotterdam,
Haarlem, Zürich, Biasca, Venedig, Ferrara, München . . . Der Zuspruch
wargroß. Rückblick: In München träume ich von einem Lyrikfestival,
das P77 heißen soll, stelle ein Programm und ein Teamzusammen, telefoniere
mit Gian und Armando Pajalich in Venedig, Giovanni d’Agostino in Santa
Maria, Codifiume in der Nähe von Ferrara. Sie sind alle begeistert. Giovanni
d’Agostino ist ein Künstler der leichteren Art bettet Grashalme,
Verbranntes, Kiefernnadeln und Mohnblumenblätter in Wachs. Seine Frau
Giovanna Manduca ist eine feine und verlässliche Person. In ihrem heruntergekommenen
Ford fahren wir nach Marseille, besuchen Julien, holen Giona in la Bastide
ab, besichtigen Höhlen und Schluchten, kehren für den Sommer nach
Riva zurück. Ping-pong und Besucher, wie Jos Knipscheer, den holländischen
Verleger, und seine riesige Familie. Im September zieht Judy aus Frankreich
fort, ich schlage Kalifornien und das verlassene Haus vor.
P77 fand statt. Dichter kamen von überall her: Spatola, Niccolai, Costa,
Angioni, Blaine, Lacy, Hoogstraten, MacAdams, Breger, Gerald Bisinger, Giovanni
Anceschi, Milli Graffi und viele andere, außerdem Michael Köhler,
der in Deutschland S-Press Tonbänder verlegte. Uwe Möntmann und Pietro
Gigli waren die Photographen. Acht Tage lang hatten wir eine gute Zuhörerschaft,
einen Buchladen für Kleinverlage, Filmvorführungen und kostenlose Übernachtungsmöglichkeiten
in Privatunterkünften. P77 war ein Wendepunkt. Ein Freund von Nanao kam
aus Holland; Soyo Benn Posset würde P78 im Cosmos in Amsterdam organisieren,
daran anschließend One World Poetry im Meelkweg. Jean-Jaques Lebel, den
ich 1958 in Paris kennengelernt hatte, begann Polyphonix in Paris, Gianni Sassi
begann Milano poesia, Julien Blaine die Cogolin, dann Tarascon, Recontres Internationales.
Diese neue Kette von Festivals, die im Saloni del Sale in Venedig geboren wurde,
weitet sich immer noch aus, obwohl nicht jeder über die Traditionslinie
Bescheid weiß: die Notwendigkeit lag jedenfalls in der Luft. Durch die
Lesungen und Festivals traf ich viele Künstler wie Anne Waldman, Bernard
Heidsieck, Valeria Magli, die ZAJ-Leute Juan Hidalgo, Walter Marchetti und
Esther Ferrer (ich mag Esther sehr), Baruchello, Amelia Rosselli, Elio Pagliarani,
Joëlle Leandre, Ma Desheng, Haraldo de Campos, Pierre Joris, Joël
Hubaut, Claude Pélieu, Arnaud Labelle-Rojoux, Jean Daive, Claude Royet-Journet,
Philippe Castellin, Philip Corner und Tom Johnson.
Erschöpft kam ich nach Riva zurück, verabschiedete Judy und Giona
die nach Kalifornien unterwegs waren. Quarantuno, der zweite Roman erschien,
dank der Initiative von Nanni Balestrini zusammen mit Gianni Sassi, Ar&a,
und gewann mir einen neuen Freund, den marxistischen Historiker Virgilio Gilardoni,
dessen Arbeit ich seit meiner Teenagerzeit verfolgt hatte. Nach einem ruhigen
Winter in Riva, Rom und Neapel in Bubis Haus in Posillipo, trafen Harry und
ich mit Jim in Maine zusammen. Eine Woche fröhlicher Schneestürme
in Jims A-Frame Haus auf der Insel Georgetown nahe Bath, und wir waren unterwegs
auf mehreren Lesetouren von Küste zu Küste. In NYC traf ich durch
Joanne auf Ted Berrigan und Alice Notley. Bei unserer Vorführung in Saint
Marks sagte Ted er habe viele Gedichte in seinem Kopf geschrieben, während
er meinen zuhörte. Wir trafen uns immer wieder in der Lower East Side,
Amsterdam, Zürich und Boulder Colorado, wo ich Ed Dorn und Jennifer Dunbar
kennenlernte, die Rolling Stock herausgaben. Ted starb 1983, er war rein verbale
Energie, und ich vermisse seinen scharfen Witz und seine Wärme. Ich widmete
eine Ausstellung meiner Tibetanischen Papiere seiner letzten Postkarte: „Unbedingt
ja jederzeit! 21/IV/83.“
Dichtung in ihren verschiedenen Aspekten: von lauter Komposition zum Schreiben
zum Bearbeiten zum Veröffentlichen zu Lesungen zu Vorführungen zu
Aktionen zu Gemälden zu Kollagen zum Reisen. Ich wurde zum Wanderer. 1978
hatten Dichtung und Kunst mein Leben übernommen. Bei Sassi in Mailand
traf ich Demetrio Stratos, der als waghalsiger Sänger für Cages Mesostics
und als Frontmann der neuen Rockband Area, die Möglichkeiten der Rückentwicklung
der Stimme erforschte. Stratos starb 1979 in NYC. (Jetzt lebe ich mit Daniela
Ronconi, der Frau mit der er verheiratet war. Die verwobenen Fäden des
Lebens sind voller Überraschungen.)
Frühling 1978: in NYC treffe ich Annabel Levitt Lee. Wir übersetzten
zusammen etwas von Blaise Cendrars, sie war im Begriff meine Airmail Postcards
im Rahmen ihrer schönen Vehicle Editions herauszugeben. Irgendwie wurde
mir auch New York vertraut. Der Sommer in Riva war ereignisreich, Ping-pong
Spiele, Giona kam und ein Strom von Besuchern. Im Herbst fuhr ich mit Corrado
Costa zum P78 nach Amsterdam, das Benn, Harry und Jos organisiert hatten. Sie
hatten Jim, Joanne, Bill Berkson, Lewis, Tom Pickard, Harris Schiff, Nanao,
Anne Waldman, Reidar Ekner, Brian Gysin, William Burroughs und viele andere
eingeflogen. Beim Frühstück stellte mir Ted einen scheuen, sehr wachsam
aussehenden englischen Dichter vor: Tom Raworth. Tom wurde in großem
Maße Teil meiner Anliegen, fortwährend treffen wir uns, lesen und
machen andere Sachen zusammen. An einem schönen Sommertag in Riva war
seine Frau Val der lachende Zeuge als wir The Thoughts of Captain Alexis improvisierten,
eine Zusammenarbeit, die sich zu einer Englisch-Italienisch-Französischen
Performance entwickelt hat. Wir sind immer noch damit beschäftigt: Mail,
Horses, Camels, usw. In ein paar Wochen werden wir in Marseilles neuem Centre
International de Poésie in La Réfuge sein und auch Callelongue
wiedersehen. Auch mit Jim mache ich geschriebene und visuelle Gemeinschaftsprojekte
wie Graffiti Lyriques und The Possible Movie.
Zehntausend Worte können nicht alles sagen und sind so schnell aufgebraucht.
P79 in Amsterdam: Jim, Harry, Adriano, Julien, Anne, kathy, Steve, Ed Dorn,
John Giorno, Diane di Prima, Udo, Gysin, Burroughs...zusammen mit Giovanni
d’Agostini und Gianantonio, der seinen Namen in John Gian geändert
hatte, machte ich Tales by Three, eine Aufführung aus Zeichen und Worten.
Das P79 Festival war solch ein Erfolg, dass man später irgendwie kommerziell
wurde und die Erforschung als wichtigen Begegnungsort ausschloß.. 1980
fuhren Jim und ich erneut im Zickzack durch die Staaten. Abgesehen von Jims
sarkastischem: „Wir öffnen neue Pfade,“ und meinem: „Ein
weiterer Tag, ein weiterer Dollar WENIGER,“ und abgesehen davon, dass
wir eine harte Zeit hatten, sah ich neue Orte: die Straße von Juan de
Fuca, Seattle, Idaho und Oregon. Wir besuchten Creeley in Placitas, kampierten
in der stürmischen Schlucht des Rio Grande, sahen Taos wieder, trafen
Nanao und waren in Albuquerque und Santa Fe (schafften es weder auf die Ranch
von Drummond Hadley noch zu Keith Wilsons Haus nach Las Cruces, New Mexico.)
Ich war ziemlich ausgemergelt, als wir in dem freundlichen Heim von Donald
Gurovich und Joanne in Bolinas ankamen. Dann besuchte ich Giona und Judy. Auf
der Ridge gab man uns einen herzlichen Empfang. Wir lasen auf einer Terrasse
unter den Sternen und besuchten Phil in der Stadt.
Seit Oktober lebt Giona wieder hier, nach jahrelangem Hin- und Herreisen. Heute
Abend hat er etwas Chinesisches gekocht, er ist dreiundzwanzig und arbeitet
ganz in der Nähe als Elektrotechniker und Werbetexter. Mit der Hilfe seines
Großvaters studierte er in San Francisco Elektrotechnik. Mein Vater hat
uns niemals im Stich gelassen und obwohl die Familie weit verstreut ist, handelt
er nach alter Sitte.
1979-1980 mietete ich ein Haus in Sperlonga, kam und ging von unserem Winterhauptquatier
am Meer mit Gian, Rita degli Esposti und Giovanni d’Agostini, gab die
Anthologie Sperlonga Manhatten Express heraus sowie Scorribanda Productions.
Das Leben während der Achtziger war kein Spaziergang. Ich lernte auf
die harte Weise, wie ich ohne meine Anliegen aufzugeben überleben konnte.
Es bedarf der Hartnäckigkeit, der Integrität und der Disziplin: Geld,
das man mit Dichtung und Kunst verdient, ist rar, und man kann keine Dichtung-Lebensmittel
kaufen, man muß Lebensmittel-Lebensmittel kaufen. Doch seit dem fast
tödlichen Autounfall 1975 in Luxemburg, habe ich das Gefühl, dass
ich auf den Wegen wandle, die meine toten Freunde und Lehrer vorgezeichnet
haben. Mach’s neu, gib was du weißt und lern, was du nicht weißt.
(1982 traf ich einen ortsansässigen Langhaarigen mit Namen Gian Pio Fontana,
der wie ein Sioux aussah, er fragte nach Jaime de Angulo. Er ist Bauer, Künstler
und unabhängiger Gelehrter und seither sind wir eng befreundet.)
Der Gruß von Julius Bissier „Es ist ein langer Weg.“ Yves
Kleins visionärer Radikalismus. Andrè Ruchats Zärtlichkeit.
Jack Boyces Geradlinigkeit. Teds Lachen. Brian Gysins schon fast zynische Eleganz,
hinter der er seine verletzliche Offenheit versteckte. Bubis Großzügigkeit.
Alle meine toten Freunde haben mich gelehrt, auf dem Boden zu bleiben. Wortkämpfer,
Zeichenkämpfer. Ueno-senseis Verständnis; Lizzi nannte ihn den Chef-Affen.
Ich trage sie mit mir, wie ich das Auge trage, das Claudio Volontè auf
meinen linken Bizeps tätowiert hat. Claudio ist ebenfalls gestorben. Tragik,
Leidenschaft, Verwirrung und Verzweiflung sind ebenfalls Teil von allem, Teil
von meinem Dasein. Wie Jim auf ein Gemälde schrieb, das in der Küche
hängt: „Wir sind alt genug zu wissen, dass . . .“ Dass was?
Dies zu wissen. Vor Jahren begegnete ich Patrizia Vicinelli, eine Gehweg-Poetin
und durch ihren Mann, Gianni Castagnoli, den Xerox-Künstler, traf ich
Dario Villa aus Mailand, einen jungen Dichter und Übersetzer von Basil
Bunting. Dario hat auch ein scharfes Auge für die bildende Kunst. Adriano
ist ebenfalls gestorben, vor fast zwei Jahren explodierte sein großzügiges
Herz. Dario hat ein schönes Stück geschrieben über meine Ausstellung
mit Tom in Adrianos Galerie auf dem Land nahe Reggio Emilia, an dem selben
Enza Fluß, an den er in den frühen Tagen von Tam Tam mit Giulia
gezogen war, etwas flussaufwärts von Mulino di Bazzano. Wie Heraklit sagt,
man kann nicht zwei Mal in das selbe Wasser treten.
Neunzehnhundertsechsundachzig; endlich wieder in Kyoto: Nach einem Abend mit
Minoru, Shizumi und Cid Corman, dachte ich daran, Lady Murasaki zu treffen:
dasselbe Gesicht
dieselbe Seele
1000 Jahre später.
Ich widmete das Gedicht Duncan McNaughton, dem amerikanischen Dichter, an dem
mir viel liegt, seit wir uns 1974 begegnet sind.
Vor Jahren schaute Giona, der damals Grafik studierte, mich an und sagte zum
Spaß: „Warum sitzt du tatenlos herum? Mach ein Magazin.“ „Ich
habe kein Geld dafür.“ „Mach etwas kleines!“ lachte
er, als er zum Spielen in den Hof ging. Innerhalb von fünfzehn Minuten
entwarf ich das Layout und Logo für mini, ’dem kleinsten Magazin
der Welt’. Bisher habe ich zwölf Ausgaben gemacht und sie überall
hin verschickt. Es ist schlicht und schnell, voll echter Menschen und ihrer
Spuren in Dichtung, Zeichen, Noten und Objekte, für jeden der interessiert
ist oder nur neugierig. Heute morgen habe ich für die Vorstellung meines
neuesten Buches, Niente da, was Nichts zu heißt, in Mailand geübt.
Ich werde Worte auf eine große Papierrolle schreiben und am Ende sie
mit einem großen X durchkreuzen, das ich mit einem nassen Schwamm mache.
Rückblick: Ich bin zwölf Jahre alt und meine hübsche Mutter
verfolgt mich mit einem Teppichklopfer, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen,
verärgert darüber, dass der Tintenfüller, den ich nach Signore
Chiesa, dem Klassenlehrer, geworfen hatte, dessen grauen Anzug mit schwarzer
Tinte bespritzt hat.
Ich war ein sehr temperamentvolles Kind, immer in Schwierigkeiten in der Schule
und mit den Vorschriften. Das war in Chiasso, vielleicht 1949. Sie hat immer
wieder die Vorteile einer Ausbildung betont. Mich hat es nie gekümmert,
dennoch brachte sie mich dorthin, wo die wirkliche Ausbildung anfängt.
Meine Mutter war sehr elegant und noch mit dreiundsiebzig achtet sie auf Stil.
Wenn ich ihr diesen Abschnitt übersetze, wird sie lachen. Rückblick:
Großvater Giuseppe nach der Scheidung meiner Eltern, „Bleib bei
deinem Vater, er braucht dich.“
Vor ein paar Minuten habe ich Jim Koller in Maine angerufen. „Was gibt’s?“ hat
er gefragt. „Ich bin dabei, diese Autobiographie zu beenden,“ antwortete
ich. „Das ist gut,“ sagte er. Jetzt werde ich in die kalte, klare
Februarnacht hinausgehen und Orion betrachten. Zurück an der summenden
Schreibmaschine, ich kann nicht aufhören. Schreiben ist schreiben über
das Schreiben des Schreibens, das man schreibt. Es ist auch eine Stimme aufzeichnen.
Ich beende diesen zehntausend-Wort Film mit einem Gedicht von 1969:
es gibt nicht viel zu verstehen
sei nur aufmerksam.
Riva san Vitale 20-23/II/1990
. . .UND KANN NICHT ANDERS
Das erste Mal begegnete ich Franco 1978 beim One World Poetry Festival in Amsterdam.
Mehr karmisch - ein Freund, der in einer Landkommune in Holland lebte war
für ein paar Tage zu seinen Eltern gefahren, so dass ich kurz entschlossen
nach Amsterdam weiterzog – als bewusst kam ich in das Büro des
Kosmos, wo Franco mit Jim Koller an einem großen Tisch saß und
telefonierte. Wir verstanden uns auf Anhieb, obwohl es einer gewissen Fähigkeit
bedurfte, Franco zu verstehen, denn er sprach mit einer solch sanften Stimme,
die mir immer wie ein Windhauch vorkam, in dem die Worte dahin trieben und
so sanft wie seine Stimme war auch sein Herz. Er hat mich damals angenommen
wie einen Bruder, und wir verbrachten die darauf folgende Woche zusammen,
in der er mich all seinen Freunden vorstellte: Joanne Kyger, Reidar Ekner,
Ted Berrigan, Nanao Sakaki, Anne Waldman & anderen. Unser Briefwechsel
geht auf diese Zeit zurück . Im darauf folgenden Jahr lud er mich zum
P79 Festival ein, und der Kreis der Dichter, die ich durch ihn kennenlernte
erweitere sich: Ed Dorn, Bobbie Louise Hawkins, Gregory Corso, Brian Gysin,
William Burroughs, John Gian & Rita Degli Espositi um nur einige zu nennen.
Im Laufe der Jahre sind wir uns immer wieder an den verschiedensten Orten begegnet;
Zürich, Bern, Riva San Vitale, Bolinas, Georgetown, Chicago, Mailand,
Venedig und Schwetzingen, wo er 1994 an dem von mir organisierten Festival
Eine Welt aus nichts als Dichtung teilgenommen hat. Mimi hat ihn damals in
Mannheim vom Bahnhof abgeholt und mit einem Lächeln stellte er mir Antonella
Tomaino vor, „die Mutter meiner Tochter.“ Er sollte diese Tochter
nie kennenlernen.
Am Abend des 25. August 1995 rief ich Franco an. „Wann kommt ihr an?“ wollte
er wissen, denn Mimi, Ting und ich wollten am darauf folgenden Tag nach Riva
bzw. Mugena fahren, in das Haus von Antonella, in dem Franco damals die meiste
Zeit verbrachte, wenn er in der Schweiz war. „So gegen 4 Uhr“ antwortete
ich. „Gut, bis morgen.“ Wir fuhren um sieben von Rohrhof ab, und
eine halbe Stunde später, kurz hinter Karlsruhe fiel der Tachometer unseres
Wagens aus. Kein Lebenszeichen mehr. Wir erreichten Mugena gegen zwei Uhr nachmittags,
aber niemand war zuhause, nichts Ungewöhnliches, wenn man Franco kannte.
Wir gingen in eine Kneipe, um uns die Zeit zu vertreiben. Als wir gegen 4 Uhr
zum Haus zurückkehrten, kam eine Freundin Antonellas und sagte: „Ich
habe schlechte Nachrichten für euch, Franco ist heute morgen um halb acht
gestorben.“ Es gibt Momente im Leben, da man verzweifelt versucht, aus
dem Traum aufzuwachen und dies war solch ein Moment. Ich muß zehn Mal
um das Haus herumgelaufen sein, durch die engen, steilen Gassen dieses kleinen
Bergdorfs, immer in der Hoffnung, dass, wenn ich wieder zum Eingang zurückkehren
würde, Franco dastünde um mich zu begrüßen. Noch heute,
sechs Jahre später komme ich manchmal in seine Wohnung in Riva San Vitale
und erwarte ihn dort an dem großen Küchentisch sitzen zu sehen.
Wir fuhren hinunter nach Lugano und besuchten Antonella im Krankenhaus, sie
hatte einen Zusammenbruch, doch dem Kind war nichts geschehen. Die Nacht verbrachten
wir im Haus in Mugena, ich habe die ganze Zeit die Ornamente an der Decke betrachtet
und auf die Klappläden an den Fenstern gehört, die ständig wie
im Zorn gegen die Hauswand schlugen. Drei Tage später fiel mittags einer
der großen Steine, die die Dachziegeln auf dem Haus in Riva beschweren,
mit lauten Knall in den Hof.
Der Tag der Beerdigung kam und mit ihm Freunde aus allen Himmelsrichtungen;
Julien Blaine, Kakumi & Jean Monod, Karl Bruder, John Gian, Giovanni d’Agostini,
Giulia Niccolai & Dario Villa, schwer gezeichnet von seiner Krankheit (es
sollte das letzte Mal sein, dass wir uns trafen), und viele, viele mehr. Franco
war in der Friedhofshalle in Mendrisio aufgebahrt, und wir gingen um ihn ein
letztes Mal zu sehen. Ting, die damals gerade zehn Jahre alt war, schaute ihn
an und sagte: „Jetzt bin ich diesen weiten Weg gekommen, und du bist
tot. Scheiße.“
Die Kapelle des Krematoriums in Lugano wo Franco eingeäschert wurde, bot
nicht genug Raum für all die Menschen, die gekommen waren. Ich stand neben
Christoph Beringer, der völlig in Tränen aufgelöst war. Giancarlo
Locatelli spielte auf der Klarinette und anschließend las ich Franco’s
Gedicht for instance dear Jaime de Angulo,
die dritte Strophe lautet wie folgt:
zum Beispiel lieber Franco Beltrametti
wenn auch du unter den Geistern bist
wird es dann einen Dichter geben
einen von den besten
der dir schreiben wird
zwei oder drei Sachen
die überhaupt nicht schlecht sind?
nur weil er sie erzählen muß
damit er zu
besserer Laune kommt
Nun, ich schreibe ihm immer noch regelmäßig über zwei oder
drei Sachen, nicht nur, um in bessere Laune zu kommen, und wenn es mal wieder
allzu unerträglich wird mit dem Verlust der Eleganz in dieser Welt, dann
erinnere ich mich an Chicago 1987, als wir an einer Ampel standen und Franco
zu mir sagte: „Aus allem Schlechten kommt etwas Gutes“ und dann
an meinen Traum, als wir uns in einem Land begegnet sind, in dem Leinen voller
Gedichte, wie Gebetsfahnen von Baum zu Baum gespannt waren. Jerome Rothenberg
hat es Das Paradies der Dichter genannt.
Rohrhof Leeres Boot 2/VI/2545 (2001)
DIE GEDICHTE
aus einem Brief an Tim Longville (4/12/70)
Nein ich habe kein griechisches Theater in meinem Hinterhof
Nein ich habe keinen Hinterhof
und Hütten so wie meine
ist alles was ich sehe
doch würde mich nicht stören ein Garten mit
(ab und zu einmal) einem griechischen Tempel
in einer abgelegenen Ecke
(nicht sichtbar)
SCHACHSPIELEN MIT ADRIANO
für Adriano Spatola
sieht aus als wollte er meine
Königin essen. Mein König sagt nein
zerrt sie an den Haaren
in die Küche: das ist nicht die Art
kastriert zu werden /und/ „Als dann
meine Läufer verschwanden
bewegte ich mich mit einer gewissen Unsicherheit
(langsamer)“
SEI AUFMERKSAM
TURM
ZUR
(PANIK) die Königin (PANIK)
sie muß weggelaufen sein (sie erzählte der
Presse es gefalle ihr nicht wie
jeder sie rücksichtslos
ausnutzte OHNE DIE GERINGSTE
STRA-
TEGIE/ eins der vielen
Dinge die mir fehlen
: eine Dusche die funktioniert
: ein Berg vor meiner Tür
4/21/70
„J“
das Problem mit dir ist dass
du zu langsam gehst
das Problem mit dir ist dass
du zu früh oder zu spät aufwachst
das Problem mit dir ist dass
du in einer S-Kurve überholst
das Problem mit dir ist dass
du dich mehr als notwendig im Exil
empfindest
das Problem mit dir ist dass
ich dich vermisse wenn du hier bist
3/10/70
Dichtung
(du hast mich nun mal gefragt)
ist eine Art
Philosophie der Aktion
das heißt
telegrammatica
7/20/70
Ezra Pound und der Vorsitzende Mao
besuchen die Bank
neben meiner Hängematte
(den Ponte die Ferro/ die Akropolis von Selinunte
die Acque Calde/ 15 km. wie die Krähe fliegt)
wir wenden uns immer jemandem zu
analysieren unsere eigene Handschrift (Ha Ha)
fraglosgegenwärtig
KEIN WIND (jedoch) IST DES KÖNIGS WIND
cf.EP, Ran Ti, canto IV, Zeile 97
8/7/70
für James Koller
Meine Dämonen
ich seh sie hervortreten
selbst von wo
ich dachte sie seinen ausgetrieben
- sie sagen sie fühlen sich wohl
- wir sind dabei Freunde zu werden
14/12/70
,ja, in jedem Moment Shirakawa
zu erkennen war das Ziel (der weiße
Fluß „floß in ein Ohr hinein
& zum anderen hinaus“ / etwas anderes
Donnervogel erkennen (einen
Kugelschreiber
(dieser Schläger
konnte das Gagku von
Millionen verschwundener Insekten sein
13/11/71
für Philip Whalen
. . . .er liebte was sauber war & prägnant
wusch in einem kalten Bach seinen Steinzahn . . . .
Ou-yang Hsiu
Sung Dynastie
für James Koller im Schnee
1500 Meilen östlich
(von diesem Fenster voller Motten)
hast du Gewehr Messer
Taschenlampe?
dann können wir gehen
& gingen
(((Hsiu hatte einen seltsamen Hut
einen langen Bart
& lehnte zwanghafte Melancholie ab)))
(((reine
Phantasie)))
Ich habe kein Gewehr
aber alles andere
& wir gingen
trotzdem
16/2/72
after you get it : forget it
Geschichte erzählt nicht immer Lügen!
Francois Villon, nie getroffen?
Ich habe nie Fuß
auf die Osterinseln gesetzt!
Krazy Kat kommt rein geht zum Fenster raus!
Ich gebrauche nicht jeden Tag Ausrufezeichen!
Auf der Suche nach einem neuen Projekt
erwarte ich jeden Morgen eine neue
Welt — eine neue Tatsache!
Innerhalb der vorgegebenen Zeitspanne
ein Pfeil : das Unvorhergesehene!
3/2/73
für Claude Pélieu
Die Große Viertelstunde
„ein Pfad nur für Vögel“ : die Genauigkeit
des alten Tu Fu schlägt in der
Entfernung zu. Hier kommt die aufgehende Sonne
der Hof erhellt sich.
Berge im Osten / Berge im Westen.
(Ich gab mir eine Viertelstunde : sie ist vorüber.
6/2/73
„In der dunklen Kneipe unserer Geburt“
. . . . die Sonne kann so lange scheinen wie sie will
die Ruhe im Zentrum die jeden Sturm ’ertragen’
kann : eine fortlaufende Zerstörung! Ich bin keine
Ausnahme : Ich verstehe mich genauso wenig wie ich dich verstehe
ihn die anderen. Ich zeichne eine Tangente
die mich davontragen möge : von
meinen Gedichten werden sie sagen : klar wie der Blitz.
Nur ich werde selbst sie nicht
verstanden haben.
29/3/73
il monte verità
der Berg ist
derselbe, die Wahrheit
änderte sich
19/III/78
Der Eingeweihte Blick
Palazzeschi lächelte argutamente
Philip Whalen rollte mit seinen Augen, hm hm
sie sind sich nie begegnet, jetzt geschieht es
kein Klavier auf dem man sitzen kann (Ziel)
ein alter Mann schleppt 4 Koffer
(Ziel) wir wollen die Situation nicht
diskutieren (Ziel) langweilige Zeitungen um
Anmerkungen zu stehlen (Ziel) ein Mädchen
kommt zu einem Auge herein und geht zum anderen hinaus
(Ziel) sulle infinite onde della
pelle (Ziel, Ziel) ja, wir existieren
nein, wir sind nicht auf Meskalin
nein, wir sind nicht auf irgendwas
nein Allen, ich weiß nicht über
Allgemeinheiten
12/XI/78 NYC
(und dann) (und dann) (und dann) (und
dann) (der Wolf) (und dann der Wolf)
(sah) (und dann sah der Wolf)
(Rotkäppchen) (und dann) (und dann)
(und dann) (und dann) (und dann)
(Rotkäppchen) (und dann Rot
käppchen) (sah) (den Wolf) (und dann)
5/II/77
für John Giorno
(Menschen die nicht mehr existieren
lenken meine Zeichen)
(Menschen die nicht mehr existieren
diktieren diese Worte)
17/VIII/77
Profondo Pensiero Bilingue
Tiefer Gedanken Zweisprachig
vor allem denken wir
sopratutto possiamo pensare
wenigstens denken wir so
alemeno così pensiamo
11/VIII/82
Wu Tao Tzu verschwand
in der Landschaft die er
gerade gemalt hatte) (manche Waffen
der Kunst sind
geheim
20/I/83
zum Beispiel Lieber Jaime de Angulo
dein Buch von vor 60 oder mehr Jahren
das ich übersetzt habe ist erschienen
ich stelle mir vor dass du froh darüber bist
den Titel habe ich nicht geändert
ich habe den Umschlag nicht ausgesucht
ich stelle mir vor du weißt das alles bereits
die Tatsache es dir mitzuteilen bringt mich
in bessere Laune
zum Beispiel Lieber Ted Berrigan
wie du darüber lachen würdest wenn
ich dir von all den kleinen
beschissenen Dingen erzählte die passieren -
du warst und gehörst zu
den Besten und in einigen Minuten
werde ich „aus deiner eleganten
Periode“ lesen wie du es in einer Widmung
bezeichnest, zum Spaß aber nicht
nur – ich sag dir die
Welt wird jeden Tag
immer weniger elegant ich stell mir vor
dass du das bereits weißt
die Tatsache es dir mitzuteilen bringt mich
in bessere Laune
zum Beispiel lieber Franco Beltrametti
wenn auch du unter den Geistern bist
wird es dann einen Dichter geben
einen von den besten
der dir schreiben wird
zwei oder drei Sachen
die überhaupt nicht schlecht sind?
nur weil er sie erzählen muß
damit er zu
besserer Laune kommt
23/V/85
Kyoto Überraschung
Ich dachte sie sei
Lady Murasaki
und sie war
Lady Murasaki
dasselbe Gesicht
dieselbe Seele
1000 Jahre später
?/V/86
Thalia Verbatim
Ich tendiere dazu alles zu vereinfachen:
wenn es ihm Spaß macht Tee
in den Spielautomaten zu schütten
keine Sorge!
25/XII/88
Ein Nachrichten-Brief an
Philip Whalen
der Kreis schließt sich von selbst (der Kreis schließt sich)
(bis jetzt geht es uns gut)
(altes Europa, Komma
Punkt.) (erfunden
fast gänzlich) (der Schnee
hängt vom Himmel) (bis vor ein
paar tausend Jahren
unsere Vorfahren – kritzelten auf Felsen)
(verstanden genau) (verstanden den ungebrochenen Kreis)
(verstanden zu überleben) und
(Spuren von fast allem und fast jedem)
(von fast überall)
(Liebe voller Neuigkeiten überlebt unberührt
17-18/2/88
am Ende
ist
jedes
Abenteuer
einsam
24/V/95
Dinge die einer Menge Arbeit bedurften
scheinen nun überhaupt nichts mehr zu bedeuten
„was für eine schöne Sonne“ sagte zu mir
im strömenden Regen
der Bauer als unsere Wege sich kreuzten
beide trugen wir
einen weißen Regenschirm
11/VI/95
wenn ein Typ wie ich
ein Buch publiziert das einen Zentimeter
dicker ist als das letzte kann das
bedeuten: das Ende
direkt vor deinen Augen
8-9/VII/95
Franco Beltrametti
Francochiffre oder Wir sind dabei Freunde zu werden
Eine Autobiographie mit Gedichten
Nordpark Verlag, Wuppertal Deutschland 2001
© 1990 Franco Beltrametti
© 2001 Franco Beltrametti Archive
© 2001 Stefan Hyner